Roman
Vor sieben Jahren stieß Lea Singer auf unveröffentlichte Briefe von Vladimir Horowitz an einen jungen Schweizer namens Nico Kaufmann. Sie offenbaren die Abgründe, Ängste und Sehnsüchte des Jahrhundertpianisten Horowitz, und sie erzählen von der tragischen Beziehung der zwei unterschiedlichen Männer. Kaufmann war Horowitz’ erster Klavierschüler – und sein Geliebter.
Ende der 1930er Jahre: Vladimir Horowitz steckt in einer Krise und hat alle Tourneen abgesagt. Dem Anschein nach hat er zu diesem Zeitpunkt bereits alles erreicht: gefeierter Virtuose, höchstbezahlter Pianist weltweit und Schwiegersohn des renommierten Dirigenten Arturo Toscanini. Als Horowitz schlagartig von den Podien verschwindet, kursieren Gerüchte, mit seiner Karriere sei es vorbei. Über Depressionen spricht niemand, schon gar nicht er selbst. Dann lernt er Nico Kaufmann kennen, Sohn aus gutbürgerlichem Haus, der über alles verfügt, was Horowitz fehlt: Weltgewandtheit, Charme, Heiterkeit, Schönheit und die Freiheit, sexuell auszuleben, was ihm gefällt. Sie beginnen eine Liebesbeziehung – bis Kaufmann einen expliziten Brief von Horowitz verliert, der in die falschen Hände gerät …
Auf Grundlage der brisanten Briefe erzählt die Münchner Autorin Lea Singer in ihrem Roman von einer verbotenen Liebe, mit der Horowitz nicht nur seine Karriere, sondern auch die Ehe mit Toscaninis Tochter aufs Spiel setzte, und spürt der Frage nach: Wie viel Mut fordert die Liebe?
Die Autorin Lea Singer, 1960 in München geboren, studierte Kunstgeschichte, Gesang, Musik- und Literaturwissenschaft. Mit ihren Romanen (u.a. Der Opernheld, Poesie der Hörigkeit und zuletzt Anatomie der Wolken) ist die gelernte Köchin und promovierte Kunsthistorikerin ebenso erfolgreich wie mit ihren Sachbüchern, die unter dem Namen Eva Gesine Baur erscheinen. Sie lebt in München und wurde für ihr belletristisches Gesamtwerk mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis ausgezeichnet.
Kampa Verlag 2019, 224 Seite, € 22,00 [D], 22,60 [A] / SFr 30,00
ISBN 978-3-311-10009-6
Fragen an Lea Singer:
Was genau hat Sie an der Liebesgeschichte zwischen Vladimir Horowitz und Nico Kaufmann besonders gereizt?
Dass sie viel mehr erzählt, als die Liebesgeschichte zwischen den beiden. Sie erzählt von den Ängsten und Hoffnungen, die eine Liebe durchpulsen, von erotischen Machtspielen und von Berechnung, von sexueller Selbstverleugnung und obsessiver Begehrlichkeit, von Depressionen und dem Mut, zu sich selbst zu stehen. Sie erzählt von der Fremdbestimmtheit vieler Menschen und dem Unheil, das Eltern angerichtet haben – überzeugt, nur das Beste für ihre Kinder zu wollen. Zudem verdichtet sich in dieser Geschichte eine dramatische politische Situation, die große Aktualität besitzt.
Sie spielen auf die Jahre kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an – was bedeutete diese Zeit für Horowitz?
Horowitz war als Jude und als Homosexueller verfolgt, ein Star, den viele beneideten und dessen Nöte kaum einer verstand. Er litt nicht nur, wie manche seiner Kollegen auch, extrem unter der Einsamkeit des Pianisten, er litt vor allem unter dem Zwang, sich anpassen zu müssen. Den kennen auch heute viele Menschen, obwohl sie nicht offiziell als verfolgt gelten. Horowitz suchte nach einer inneren Heimat, weil er die äußere verloren hatte, und hoffte, sie in der Liebe, einer erfüllten Beziehung zu finden. Das aber gelang ihm bis an sein Ende nicht.
Als junger Mann erkrankte Horowitz an Depressionen, die ihn Zeit seines Lebens begleiten sollten. In Ihrem Roman schreiben Sie sein Leiden seiner verheimlichten Homosexualität zu. Wie viel Wahres steckt in dieser Interpretation?
Schrecklich viel Wahres. Denn Horowitz wagte nie, ganz er selbst zu sein. Er führte ein Doppelleben, das nur ein halbes Leben war, und wurde von gewissenslosen Ärzten dazu verführt, seine sexuelle Orientierung als Krankheit zu betrachten, die es loszuwerden galt. Wenn ich jetzt lese, dass sogar in Deutschland Therapien zur sogenannten Heilung von Homosexuellen propagiert werden, möchte ich sofort auf die Barrikaden steigen.
Warum ist Vladimir Horowitz heute noch immer so bekannt und beliebt? Und glauben Sie, dass sich der Blick auf ihn ändern wird?
Horowitz war und ist einzigartig. Er riskierte alles, um den Klang zu zaubern, mit dem er sein Publikum in Bann schlug. Das Gefährdete seines Spiels und seiner Persönlichkeit berührt uns, wenn wir ihn hören. Wie er Mozarts Andante amoroso spielt ist unvergleichbar. Viele junge Pianisten sehen in ihm ein Vorbild, weil ihm der Ausdruck wichtiger war als Sicherheit. Er wollte um alles in der Welt die Menschen errreichen. Und dieser emotionalen Intensität kann sich kaum einer entziehen. Ich wünsche mir, dass der Roman den Leser verstehen lässt, wie hoch der Preis war, den Horowitz für seine Karriere entrichtete. Dass er ein Leben lang sein eigener Gefangener war und Befreiung nur in der Musik erlebte.
Sie lassen die Geschichte in Ihrem Roman von Nico Kaufmann innerhalb weniger Tage des Jahres 1986 erzählen, bauen also eine räumliche, zeitliche und psychische Distanz zwischen sich und die Figuren ein. Warum?
Zum einen, weil ich als heterosexuelle Frau den Liebenden und ihren Gefühlen nicht zu nahe treten wollte – die sollten sich ganz ohne mich entwickeln. Zum anderen, weil Nico Kaufmann bei mir ein starkes Motiv besitzt, diese Geschichte zu genau diesem Zeitpunkt einem Fremden zu erzählen. Und dann gibt es noch einen privaten Beweggrund: 1986 erlebte ich meine Horowitz-Offenbarung bei seinem Konzert in Berlin, das zur musikalischen Legende wurde. |