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Dienstag, 3. Dezember 2024
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Stressfrei entscheiden: Achten Sie auf die Impulse Ihres Inneren
Von Christoph Quarch

Entscheiden müssen wir uns permanent. Doch nicht immer fällt uns das Entscheiden leicht. Dann hilft es, sich darüber aufzuklären, was beim Entscheiden genau geschieht, und wer in uns entscheidend ist, meint der Philosoph Dr. Christoph Quarch.

Es war einmal ein Esel, der hatte großen Hunger. Da traf es sich dem Anschein nach recht gut, dass sich zu seiner Linken ein großer Heuhaufen befand. Allein, im gleichen Abstand war ein zweiter Haufen, dessen Heu genauso frisch und lecker duftete. „Wer die Wahl hat, hat die Qual“, bemerkte da der arme Esel, und weil er sich partout nicht denken konnte, welcher Heuhaufen der schmackhaftere sei … bekam er keinen Huf von der Stelle und verreckte jämmerlich in der Mitte zwischen beiden.

Diese Anekdote verdanken wir dem Philosophen Johannes Buridan (1295–1363), der mit ihrer Hilfe zu bedenken geben wollte, wie wichtig es für die Entscheidungsfindung ist, mit Hilfe des rationalen Denkens zu ermessen, welche Option sich als die bessere und folglich tunliche erweisen könne. Hunger oder Appetit allein, so Buridan, sind als Entscheidungshelfer unzureichend. Deshalb ließ er seinen armen Esel sterben.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass auch wir mit Rationalität gesegneten Menschen uns oft mit Entscheidungen schwertun: dass uns zuweilen auch der schärfste Sachverstand nicht hilft, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben. Und dann leiden wir und quälen uns nicht anders als Buridans Esel; dann machen wir uns Stress und suchen verzweifelt nach einem Entscheidungshelfer, der uns von jenem unangenehmen Zustand des Unentschieden-Seins befreit. Was dann?

Wer dem Geheimnis des Entscheidens auf die Schliche kommen möchte, ist nicht schlecht beraten, auf die Sprache zu achten. Denn sie verrät, worauf es beim Entscheiden ankommt (und warum es für uns so wichtig ist, entschieden zu sein): Es geht darum, einen Zustand der inneren Geschiedenheit zu überwinden. Wer sich nicht entscheiden kann, ist uneins mit sich selbst. Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Er ist mit sich nicht länger eins und ringt darum, mit sich wieder ins Reine zu kommen. Und also muss er sich ent-scheiden.
Was tut er dann? Er versucht, eine Entscheidung zu treffen oder auch zu fällen. Erneut verrät die Sprache etwas Wesentliches: Das Verb „fällen“ verwenden wir sonst nur im Zusammenhang mit Bäumen. Man fällt einen Baum, der schon da ist, den man aber fällen muss, um ihn sich anzueignen. Genauso ist es mit Entscheidungen: Sie sind schon da – und die Kunst besteht nur darin, sie zu finden bzw. zu treffen, um ihrer habhaft zu werden. „Treffen“ ist das geläufigste Verb im Zusammenhang von Entscheidungen. Man trifft sie so wie man einen Freund trifft: manchmal zufällig, aber meistens so, dass man sich aufmacht, um ihm zu begegnen. Dann trifft man ihn, aber „macht“ ihn nicht. Ebensowenig kann man Entscheidungen machen. „Decision making“ ist ein irreführendes Idiom.

Halten wir fest: Entscheidungen muss man treffen, und zwar immer dann, wenn man mit sich uneins ist bzw. wenn die Stimmen im Inneren konkurrieren. Nur: Wie trifft man sie – und vor allem: wie trifft man die richtigen Entscheidungen?

Zunächst sollte man ermitteln, um was für Stimmen es sich handelt. Häufig schwelen in uns Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen: schnell ans Ziel kommen oder die schönere Strecke nehmen? Oder zwei Werte kollidieren: möglichst kostengünstig einkaufen oder möglichst umweltschonend? Hat man sich darüber aufgeklärt, was da konkurriert, kann man sich die – entscheidende – Folgefrage vorlegen: Wer ist der Urheber dieser Stimmen? Wo genau verläuft in uns die Scheidung, die zu überwinden wäre?

Diese Frage rührt an unser Menschenbild. Sie nötigt uns zu einer Reflexion darauf, wer wir eigentlich sind. Eine traditionelle Antwort lautet: Wir sind komplexe Wesen, die unterschiedliche Dimensionen an sich aufweisen: Wir sind Leib, wir sind Ich, wir sind Seele, wir sind Geist. Wenngleich diese Begriffe schwer beladen sind, können wir sie hier zu Rate ziehen. Denn der innere Konflikt, der uns Entscheidungen erschwert, kann sich zwischen den Bedürfnissen unseres Leibes (Hunger, Schlaf) und den Interessen unseres Ichs (Abnehmen, Party machen) zutragen; er kann sich aber genauso zwischen den Interessen des Ichs (Karriere machen) und der Dynamik unserer Seele (Familie gründen) abspielen – wobei Konflikte zwischen Ich und Seele am schwersten aufzulösen sind, weil sich die Dynamik der Seele – oder des Selbst – oft im Unterbewussten, im Bereich der Emotionen oder auch Intuitionen abspielt, während unser Ich seine Interessen und Wünsche oft klar benennen und rational verfolgen kann.

Diese Art von Konflikten sind die gravierendsten. Sie verursachen am meisten Stress, weil sie nicht durch rationale Operationen, Kalküle oder gar Berechnungen aufgelöst werden können. Kein Algorithmus der KI reicht in die Tiefen einer Seele. Deshalb bleibt uns nichts anderes, als uns in Achtsamkeit und Wachsamkeit für die Impulse zu üben, die aus der Seele in uns aufsteigen: Intuitionen, Bauchgefühl, körperliche Reaktionen. Sie sind bei den großen Fragen stets die besten Entscheidungshelfer, denn das Leben lehrt, dass Ihre Seele längst entschieden hat und Sie in ihr Ihre Entscheidungen treffen. Also lauschen Sie auf die Impulse Ihrer Seele, und verzetteln sich nicht in umständlichen Kalkülen.

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Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit „ZEIT-Reisen“. In seinem aktuellen philosophischen Entscheidungshelfer „Nicht denken ist auch keine Lösung“ (GU) identifiziert er unterhaltsam, informativ und praktisch die Faktoren, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen und zeigt Wege, wie wir diese Faktoren gewichten und berücksichtigten können.
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Eintrag vom: 18.04.2018  




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