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Dr. Albert T. Lieberg zum Weltsozialforum 2018 – Ein Résumé
Was seine potentielle Bedeutung als politischer Akteur angeht, blockiert sich das Weltsozialforum seit Beginn seiner Existenz selbst, weil es auf seinen anfänglichen Prinzipien beharrt und keinerlei Führungs- und Repräsentationsstrukturen zulässt. Sicherlich ist dies auch begründbar mit der nicht unberechtigten Angst, zum Spielball von Interessensgruppen zu werden. Doch es gibt keine Politik ohne Risiko, es gibt keine Rückversicherung in der demokratischen Evolution. Die drastischen Kennzeichen unserer heutigen Welt sind alarmierender denn je. Eskalierender Konsumwahn, Stress, Verdummung, Nationalismen, Populismus und Radikalisierung, Umweltzerstörung, Kriege und sich verschärfende Militarisierung, Gewalt, klaffende Armutsscheren, Ungerechtigkeit, Migration, Ausgrenzung, Vereinsamung sind nur einige Aspekte unserer globalen Wirklichkeit. Was fundamental nötig ist - auch unabhängig vom Weltsozialforum - heute mehr denn je zuvor, ist eine starke internationale politische Plattform zu kreieren, die progressive, tiefgreifende politische Reformen ausarbeitet, diese öffentlich vermittelt und durch einen in Gang zu setzenden Prozess der Öffentlichkeitsarbeit die Realpolitik in den Staaten unserer Welt mit beeinflusst. Doch es fehlt eine solch fassbare Instanz als Orientierung, als Ansprechpartner. Es fehlt eine entsprechende Struktur.


Das Weltsozialforum 2018 – Nur internationales Happening oder doch noch Katalysator eines globalen Systemwechsel ?

Die Geschichte des Weltsozialforums (WSF) begann 2001 in Porto Alegre/Brasilien. Seit 2009 findet es im Zwei-Jahres-Takt statt - zuletzt machte es Station in Dakar/Senegal, Tunis/Tunesien und Montreal/Canada. Dieses Jahr kehrte das WSF (13.-17. März 2018) nun zum insgesamt siebten Mal zu seiner Geburtsstätte nach Brasilien zurück, genauer: nach Salvador da Bahia. Das Weltsozialforum wurde seinerzeit als eine Art Gegenveranstaltung vor allem zum Davoser Weltwirtschaftsforum konzipiert, bei dem sich im Schweizer Edelresort jährlich die Eliten der Weltwirtschaft und Weltpolitik ein Stelldichein geben, um über die Zukunft unseres Planeten zu beraten. Das WSF hingegen ist das größte Treffen der Zivilgesellschaft weltweit, um Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu diskutieren. In jeder seiner Ausgaben führt es tausende von TeilnehmerInnen zu mehreren hunderten Aktivitäten (Workshops, Konferenzen, Dialoge usw.) unter verschiedenen Themenbereichen (u.a. Menschenrechte, Demokratisierung, globale Gerechtigkeit und Weltfrieden, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Feminismus, Armut und Gewalt, Umwelt und Klimawandel, Diskriminierung und Ausgrenzung) zusammen. Das WSF ist eine pluralistische, nicht konfessionelle, nichtstaatliche und nichtparteienbezogene Institution, die dezentral Organisationen und Bewegungen zusammenbringt, welche durch Aktivismus auf lokaler, regionaler wie internationaler Ebene dazu beitragen wollen, eine gerechtere und friedlichere Welt mitaufzubauen, jenseits der globalisierten Doktrin unserer materialistischen Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft.

Mit den weltweiten Treffen wird unter anderem aber auch beabsichtigt, Alternativen zum vorherrschenden Denkmodell des globalen Neoliberalismus aufzuzeigen und weiterzuentwickeln. Doch weder konzeptionell noch strategisch ist das WSF dafür geschaffen, konkrete Maßnahmen zu beschließen oder gar Resolutionen zu verabschieden, sondern sieht sich zu allererst als Gelegenheit zur Vernetzung und des Austausches seiner (oft mehrheitlich lokalen) Akteure - so auch dieses Mal. Beim WSF 2018 handelte es sich somit auch mehr um ein brasilianisches, denn um ein Weltsozialforum, kamen doch über 90 Prozent der Teilnehmer aus dem eigenen Land und die dominierende Anzahl der Veranstaltungen befassten sich mit Thematiken der brasilianischen Aktualität (wie etwa die anhaltende Staatskrise nach der Absetzung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff, die Militarisierung von Rio de Janeiro, die Angst um die Aushöhlung der Demokratie) - Veranstaltungen zu globalen Themen waren kaum wahrnehmbar. Und genau dies ist aus meiner und aus der Sicht einiger langjähriger Beobachter und Aktivisten eines der großen Probleme der Institution, die sich Weltsozialforum nennt. Denn das geringe Vorhandensein von Events zu stringent globalen Thematiken trägt dazu bei, dass das WSF de facto keine wirklich weltpolitische Bedeutung generiert. Sicher, für die teilnehmenden Gruppen und Bewegungen ist es ein wichtiger Moment der Aufmerksamkeit, der Solidarität und vor allem ein unbestreitbarer Motivationsschub. Doch das WSF ist, realistisch betrachtet, immer nur alle zwei Jahre für die kurze Dauer der vier Tage seiner Ausrichtung existent und verschwindet dann wieder im fassungslosen Nichts.

Das WSF hat gewollt keine wirkliche Struktur noch Organisation. Es ist insgesamt horizontal partizipativ konzipiert, ohne Entscheidungsgremium oder formellen Vertretern. Neben einem machtlosen Sekretariat in Marokko, gibt es den Internationalen Rat (International Council), in dem über 150 Organisationen und Bewegungen in einem losen Netzwerk vertreten sind. Dieser Rat trifft sich sporadisch ein- bis zweimal im Jahr, kann aber keine wirklich strategischen Entscheidungen treffen, außer über den nächsten Austragungsort und eine eventuelle grobe Themensetzung. Aus meinen Gesprächen und Beobachtungen ergab sich zudem, dass der International Council offensichtlich tief in verschiedene Lager gespalten ist: eines, das die Horizontalität und Strukturlosigkeit dogmatisch verteidigt, ein anderes, welches sich für die Schaffung einer gewissen Minimalstruktur, für eine gewisse Konturengebung des Weltsozialforums nach Außen einsetzt und ein weiteres, das durch Orientierungs- und Tatenlosigkeit der eigenen Betrachtung frönt.

Was seine potentielle Bedeutung als politischer Akteur angeht, blockiert sich daher das Weltsozialforum seit Beginn seiner Existenz selbst, weil es auf seinen anfänglichen Prinzipien beharrt und keinerlei Führungs- und Repräsentationsstrukturen zulässt. Sicherlich ist dies auch begründbar mit der nicht unberechtigten Angst, zum Spielball von Interessensgruppen zu werden. Doch es gibt keine Politik ohne Risiko, es gibt keine Rückversicherung in der demokratischen Evolution. Die drastischen Kennzeichen unserer heutigen Welt sind alarmierender denn je. Eskalierender Konsumwahn, Stress, Verdummung, Nationalismen, Populismus und Radikalisierung, Umweltzerstörung, Kriege und sich verschärfende Militarisierung, Gewalt, klaffende Armutsscheren, Ungerechtigkeit, Migration, Ausgrenzung, Vereinsamung sind nur einige Aspekte unserer globalen Wirklichkeit. Was fundamental nötig ist - auch unabhängig vom Weltsozialforum - heute mehr denn je zuvor, ist eine starke internationale politische Plattform zu kreieren, die progressive, tiefgreifende politische Reformen ausarbeitet, diese öffentlich vermitteln kann und durch einen in Gang zu setzenden Prozess der Öffentlichkeitsarbeit die Realpolitik in den Staaten unserer Welt mit beeinflusst. Doch es fehlt eine solch fassbare Instanz als Orientierung, als Ansprechpartner, es fehlt eine entsprechende Struktur.

Die sogenannten progressiven oder als links bezeichneten politischen Parteien sind quasi weltweit allesamt gescheitert. Sie sind im Auflösungsprozess, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren oder üben sich frenetisch im sozial- und umweltpolitischen Abdämpfen der entsprechenden Konsequenzen eines globalisierten materialistischen Kapitalismus. Und dies, weil sie entweder nicht willens oder nicht fähig sind die grundsätzlichen Problematiken und Irrwege unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, in Frage zu stellen und in konkrete, konsequente Reformpolitiken zu übersetzen. Zu diesen Fehlentwicklungen, die heute grundsätzlich als unabänderlich angesehen werden, die aber tabulos angegangen werden müssen, gehören unter anderem die folgenden Grundpfeiler unserer globalen Gesellschaft:

 Das wirtschaftliche Wachstum sowie insbesondere die Profitmaximierung sind die wichtigsten Orientierungsparameter aller nationaler und globaler Wirtschaftsprozesse und, aufgrund der Notwendigkeit der Schaffung von Geldeinkommen, damit auch des menschlichen Handelns.

 Eine Wettbewerbsgesellschaft, in der einzelne Menschen und Unternehmen/Gruppen wettstreiten, um sich gegen andere durchsetzen zu müssen.

 Die implizite Gleichstellung von finanziellem Erfolg mit sozialer Akzeptanz.

 Mit Ausnahme von Sonnenlicht und Atemluft, und bis zu einem gewissen Grade Liebe/Zuneigung, sind alle Bereiche und Dinge des Lebens zu monetär bewerteten und damit gehandelten oder handelbaren Waren konvertiert und können zu Privatbesitz werden.

 Die Motivation zur persönlichen Leistung wird primär durch das In-Aussichtstellen eines (hohen) finanziellen Einkommens und des damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehens bestimmt.

 Die sich beschleunigende Angleichung von wirtschaftlicher Macht und politischem beziehungsweise gesellschaftlichem Einfluss (u.a. Informationsmedien, Digitalisierung, transnationale Konzerne).

 Geo-strategische und staatspolitische Entscheidungen richten sich primär nach wirtschaftlichen Interessen.

Es sind komplexe Zusammenhänge, die wir als dominante und möglicherweise potentiell intelligenteste Spezies auf diesem Planeten anzugehen haben, jedoch müssen wir uns dafür vor allem von verzerrten Vorstellungen eines angeblich unabänderlichen Verhaltenscodex des Menschen emanzipieren. Um die Fehlentwicklungen und Missstände unserer Evolution auf Dauer überwinden zu können, brauchen wir einen tiefgreifenden, vielleicht sogar radikalen Systemwechsel. Auf einer eigenen Veranstaltung des Weltsozialforums zur Notwendigkeit und zu den Inhalten eines möglichen (politischen) Systemwechsels habe ich entsprechend auf diese Zusammenhänge hingewiesen.

Das von mir beim WSF vorgebrachte konkrete Modell der Gesamtgesellschaftlichen Modernen stellt sich der Herausforderung und folgerichtig der notwendigen Erarbeitung einer konkreten Gesellschaftsoption. Wir müssen über die zwar richtige, aber sich nur wiederholende, schon bekannte Materialismus- und Kapitalismuskritik endlich hinauswachsen. Auch dürfen wir uns nicht in der Betrachtung isolierter oder lokaler Reformansätze verlieren, sondern endlich tabulos die Formulierung eines ganzheitlichen politischen Ansatzes wagen. In diesem Zusammenhang ist eine grundsätzliche Entideologisierung der politischen Debatte historisch unabdingbar und damit zeitgemäß, auch um das Groh der Bevölkerung wieder demokratisch an ihrer eigenen Entwicklung teilhaben zu lassen. Das Ausdifferenzieren in Links und Rechts muss aufgehoben werden, muss dem gedanklich unvoreingenommen gemeinsamen Erarbeiten ganzheitlicher Lösungen für die Zukunft unserer Weltgesellschaft Platz machen. Wir müssen uns konzentrieren auf die natürlichen Bedürfnisse unserer Spezies und unserer natürlichen Umwelt, von der wir abhängen. Eine emanzipierte, moderne und intelligente Gesellschaft muss sich befreien können vom künstlich geschaffenen Diktat des Geldes, vom materiellen Konsumzwang, vom individualistischen Streben nach Besitzakkumulation und einem Sozialprestige definiert als Überlegenheitsanspruch, vom sozial-psychologischen Zerstörungspotenzial des allgegenwärtigen Wettbewerbs als angeblich alternativloses Allerheilsmittel. Dafür ist es unter anderem notwendig, dass wir unsere eigenen Erziehungsinhalte und Verfassungen neu formulieren, jeder Macht- und Kapitalakkumulation die Grundlage entziehen, und ein universales Gemeingut schaffen, welches vom Geldwert entkoppelt ist, und damit weltweit die Basis schafft für eine friedliche Koexistenz und einen akzeptablen Lebensstandard.

Weite Teile der Weltbevölkerung sehnen sich nach Vorschlägen für fundamentale Veränderungen in unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Doch nur wenn sich all die unterschiedlichen Akteure, die Menschen mit einer solidarischen und nichtmaterialistischen Weltsicht bündeln und eine breite gesellschaftspolitische Kraft bilden, wird es eine Möglichkeit geben die Wirtschafts- und Sozialsysteme weltweit und nachhaltig zu verändern und damit eine global erneuerte, moderne und gerechte Gesellschaft auf dem Planeten Erde zu entwickeln. Sowohl in meinen Gesprächen mit wichtigen Alphatieren des Internationalen Rates wie auch während einer zentralen Veranstaltung zur Zukunft des Weltsozialforums, habe ich diese Notwendigkeit angesprochen und für ein entsprechendes Handeln plädiert

Es wird sich möglicherweise schon in absehbarer Zeit herausstellen, ob das Weltsozialforum in der Lage oder willens sein wird, sich von einem internationalen Happening der Solidarität doch noch zu einem tatsächlichen Katalysator eines globalen Systemwechsels zu entwickeln - wie es seit seines Bestehens von den Teilnehmern und Unterstützern des Forums immer wieder gefordert wurde und wird. Oder ob es schließlich, wie viele langjährige Beobachter befürchten, an seiner eigenen Prinzipientreue verkümmert. Die existentielle Notwendigkeit eines gemeinschaftlich getragenen Systemwechsels bliebe hiervon jedoch unberührt.

Dr. Albert T. Lieberg (22. März 2018)

Das Buch "Der Systemwechsel - Utopie oder existentielle Notwendigkeit?" ist im Büchner-Verlag, Marburg, erschienen, hat 144 Seiten und kostet als Klappenbroschur EUR 17,00 (D) - ISBN 978-3-96317-105-5 und als ePDF EUR 14,00 (D) - ISBN 978-3-96317-606-7
 
Eintrag vom: 12.04.2018  




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