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Supermacht Wissenschaft: Unsere Zukunft zwischen Himmel und Hölle
Ein Interview mit Lars Jaeger


- Herr Jaeger, im August erscheint Ihr neues Buch „Supermacht
Wissenschaft. Unsere Zukunft zwischen Himmel und Hölle“ beim
Gütersloher Verlagshaus. Was war die Motivation für Ihr neues
Buch, das ja durchaus die kontroversen und nicht immer positiven
Seiten der Wissenschaft diskutiert?

Gerade in diesen Wochen erleben wir bis in die Tagespresse hinein die Diskussion um die neue Geneditier-Technologie CRISPR. Diese macht es sehr einfach, unsere Gene umzuschreiben. Es braucht nicht viel Fantasie zu erkennen, was dies bedeutet und wie dies unsere Gesellschaften verändern wird. Dabei ist CRIPSR mit seinen Möglichkeiten des präzisen, schnellen und kostengünstigen Eingriffs in unser Genom (und dass aller Tiere und Pflanzen) und den damit verbundenen Hoffnungen (z.B. in der Medizin oder Landwirtschaft) sowie Gefahren (Menschenzucht) nur eine von zahlreichen Schlüsseltechnologien, die unser Leben schon in wenigen Jahren fundamental prägen werden. Es sind gleich ein Dutzend neuer Schlüsseltechnologien zugleich – von der Quantenphysik bis zur Algorithmik, von der Nanochemie bis zur Reproduktionsgenetik und der Erzeugung synthetischen Lebens, von neuer Medizin bis zu der perfekten Ernährung, von der künstlichen Intelligenz und Neuro- bzw. Bewusstseinstechnologien bis zur Robotik, von schlauen Fabriken bis Big Data, von denen jede einzelne Türen in bisher unvorstellbare Möglichkeitsräume öffnet. Anders als früher sind wissenschaftliche und technologische Durchbrüche nicht mehr Sache von Jahrzehnten, sie finden heute im monatlichen Takt statt. Gewaltige gesellschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen stehen uns daher nicht erst in fernen Zeiten bevor.

So machen um uns herum Wissenschaftler unglaublichste Technologien möglich und die meisten von uns befinden sich wie in einer Blase, in der wir noch der alten Zeit verhaftet sind und Mühe haben, die Neuerungen überhaupt wahrzunehmen. Geschweige denn zu verstehen, was sie bedeuten und wie sie unsere Gesellschaften verändern werden, bevor sie sich allzu deutlich vor uns abzeichnen (und dann reiben wir uns erstaunt die Augen und fragen, wie das denn alles möglich ist). Es ist noch immer viel zu wenig von Physik, Chemie oder Biologie die Rede, wenn uns Journalisten und andere Meinungsmacher Weltzusammenhänge und wichtige gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen wollen. Das Buch will hier einen Beitrag leisten, die Diskussion um die Gestaltung unserer technologischen Zukunft in der breiten Gesellschaft zu verankern, anstatt dies Experten oder – noch schlimmer – den ökonomischen Interessen von Unternehmen zu überlassen. Es ist das Ziel des Buches, die Leserinnen und Leser auf eine aufregende Reise mitzunehmen, die uns in die Welt der Möglichkeiten unserer eigenen Zukunft führt. Dabei geht es auch darum, wie wir so weit wie möglich die Kontrolle über diese Technologien behalten können.


- Wie sich von Ihrem Buchtitel bereits ableiten lässt, sehen sie die
Wissenschaft als eine Supermacht. Weshalb?

„Supermacht Wissenschaft“ soll darauf verweisen, dass der Wissenschaft und den aus ihr hervorgehenden Technologien ein gewaltiger Einfluss in der Gestaltung unserer Zukunft zukommt.

Die wesentlichen Motoren der Moderne sind die Naturwissenschaften. Ihre Erkenntnisse haben seit dem 19. Jahrhundert das menschliche Leben stärker verändert als jegliche wissenschaftliche oder sonstige geistige Erkenntnisse in den 10.000 Jahren davor. Aus dem Wunsch der Wissenschaftler, die Welt zu verstehen, ist heute längst auch ein Wille zur Gestaltung geworden. Immer neue Innovationen führen uns in neue Dimensionen der Naturbeherrschung und Lebensgestaltung, die uns nur wenige Jahre zuvor noch unvorstellbar erschienen. Enkelkinder erklären heute ihren Großeltern die Feinheiten des Smartphones und wie sie jederzeit mit WhatsApp und Facebook in Kontakt mit ihnen treten können. Wer weiß, was sie sich einmal von ihren eigenen Kindern oder gar jüngeren Geschwistern erklären lassen müssen. Die rasante, immer schneller werdende Fahrt führt uns in eine zunehmend durch völlig neue Technologien geprägte Zukunft.


- Sie sprechen davon, dass die modernen Technologien, obwohl
von Menschenhand geschaffen, den Spieß auch umdrehen können.
Wie darf man sich das vorstellen?

Bislang formte der Mensch die Natur nach seinem Willen, und zwar mit Hilfe von immer anspruchsvoller werdenden Technologien. Dies ist die Grundlage unseres enormen Wohlstands und der historisch unvergleichbar hohen Lebensqualität, die wir heute genießen. Doch Technologien können den Spieß auch umdrehen. Sie formen dann den Menschen. Genau dies beginnt heute: Gentechniker greifen in unsere Keimbahn ein, Algorithmen entscheiden über Leben und Tod, künstliche Intelligenz bestimmt unsere Entscheidungen. Unser Alltag, unsere menschliche Existenz, unser ganzes Wesen verändert sich. Wir leben in einer historisch einmaligen Zeit. Die Frage ist: Wollen wir diesen Epochenwandel?


- Ab welchem Punkt beginnt für Sie die Verselbstständigung der
Technologie und welche wissenschaftlichen Errungenschaften
können uns Ihrer Meinung nach besonders gefährlich werden?

Hier lassen sich natürlich keine klaren Grenzen ziehen. Nehmen wir noch einmal das Gen-Editierungsverfahren CRISPR: Dieses könnte und wird wohl sicher dazu verwendet werden, bestimmte genetisch bedingte Krankheiten zu eliminieren. Das kann so weit gehen, dass damit Krebs, AIDS und andere gefährliche Krankheiten behandelbar werden. Wenn es um genetische Krankheiten geht, die vererbt werden, kann könnte man diese sogar schon im embryonalen Stadium behandeln. Gendefekte, die aufgrund eines Defekts, oder wie in den meisten Fällen aufgrund von Anomalien in einer Kombination von Genen entstehen, könnte man dann bereits eliminieren, bevor der betroffene Mensch geboren wird. All dies ist großartig. Die Grenzen liegen dort, wo es darum geht, gesunde Menschen in ihren spezifischen Eigenschaften zu verändern, die nichts mit einer genetischen Krankheit zu tun haben. Sprich, sie intelligenter zu machen oder äußere Attraktivitätsmerkmale zu verändern. Was wäre zum Beispiel, wenn plötzlich jeder Kinder mit blauen Augen haben will? Spätestens dort ist die Grenze zu ziehen, wo wir den Menschen an sich verändern. Ein ungeborenes Baby wird dann von vornherein so programmiert, wie es die Eltern oder andere haben wollen. Das verstößt gegen die Menschenwürde.

Blicken wir auf die Technologie-Geschichte der letzten 400 Jahre zurück: Neue Technologien waren doch schon immer mit Ambivalenzen verbunden. Genau diese gilt es zu erkennen, abzuwägen und auch auszuhalten.


- Gab es während dem Entstehungsprozess Ihres Buches technologische
Entwicklungen, die selbst Sie als Wissenschaftler überrascht
haben, oder die Ihnen vielleicht auch Sorge bereiten?

Wer regelmäßig die wissenschaftliche Literatur liest – oft reichen auch schon die Wissenschaftsteile guter Tageszeitungen – wird sehr schnell merken, dass der wissenschaftliche Fortschritt keine Frage von Jahren oder Jahrzehnten ist, sondern eher von Wochen und Monaten. Allein in den neun Monaten, in denen ich das Buch geschrieben habe, gab es zahlreiche dramatische Entwicklungen, die ihren Schatten auf unsere Zukunft werfen. Geneditierung an menschlichen Embryos, eine künstliche Intelligenz definiert das jahrtausendealte Spiel Go um und zeigt den Weltmeistern dieses Spiels ganz neue und sehr kreative Strategien auf, Organismen mit komplett künstlich hergestelltem Genom werden geschaffen, Quantencomputer werden entwickelt, und Vieles andere. Jede einzelne dieser Entwicklungen besitzt ein revolutionäres Potential für unsere Gesellschaft. Und wer bereit ist, über die Tages- und Wochenzeitungen hinauszublicken und etwas tiefer in die Welt der Wissenschaft und Technologie einzutauchen, wird sein Staunen nie verlieren. Nahezu in jedem ihrer Bereiche und Forschungsgebiete lassen sich bahnbrechende Entwicklungen beobachten, welche jede für sich Faszination, Ehrfurcht und Erstaunen über das Zukunftsmögliche auszulösen vermag. Diese Entwicklungen versuche ich auch auf meinem zwei-wöchentlichen Blog aufzuzeigen (www.larsjaeger.ch).


- Nun ist die Wissenschaft nicht nur negativ, sondern bietet auch
durchaus positive und chancenreiche Perspektiven für die
Menschheit. Gibt es Technologien, die das Potenzial beinhalten
die großen Probleme der Menschheit zu verringern oder gar zu
lösen (Hunger, Krankheit, Klimawandel)?

Aber natürlich. Darauf verweist das Buch auch in vielen Details. Gerade in der Medizin steht uns eine neue Revolution bevor, die vergleichbare Auswirkungen haben wird wie die Entdeckung der Keime als Krankheitserreger oder Antibiotika. In den letzten 150 Jahren hat sich damit die Lebenserwartung der Menschen verdoppelt. Es würde mich nicht wundern, wenn dies in weniger als dieser Zeit noch einmal passieren wird. CRISPR könnte uns helfen den Krebs zu besiegen, Nano-Roboter könnten Krebszellen und Krankheitserreger frühzeitig erkennen. Mit künstlicher Intelligenz könnten wir in unserem Leben in vielen Bereichen rationalere und bessere Entscheidungen treffen, 3D-Drucker könnten alles, was wir brauchen, inkl. Lebensmittel, ausdrucken. Und auch der Klimawandel könnte sich gestalten lassen, z.B. wenn Energie ganz anders als heute produziert wird. Auf all das gehe ich in „Supermacht Wissenschaft“ ein. Ich bin sogar optimistisch, dass wir mit neuen Technologien unsere Zukunft sehr positiv gestalten können. Aber natürlich gibt es auch viele Hindernisse. Und tatsächlich geht der Trend heute leider oftmals in keine so gute Richtung. Hier gilt: Wir müssen heute aktiv werden, Technologie gestalten und dürfen nicht alle Entwicklungen einfach geschehen lassen. Bei einem verantwortungsvollen Gebrauch der Naturwissenschaften könnten uns in der Zukunft paradiesische Zustände winken, bei verantwortungslosem Gebrauch die unwiederbringliche Zerstörung unserer humanistischen Errungenschaften und ein Leben in einer irdischen Hölle.


- Was macht dieser technologische Fortschritt mit uns Menschen?
Werfen wir bald alle moralischen Werte über Bord?

Natürlich nicht, aber Werte ändern sich auch mit dem technologischen Fortschritt. Und sie sind auch nicht überall gleich. Vergleichen wir nur mal die Einstellung zu Robotern: Im Westen können wir uns nicht vorstellen, uns im Alter von solchen seelenlosen Wesen pflegen zu lassen. In Japan ist das heute schon üblich. Man spricht ihnen dort sogar eine Seele zu. Oder die Einstellungen zu eugenischen Eingriffen in unsere Keimbahn. Dem steht man in China weitaus aufgeschlossener gegenüber als bei uns im Westen (wo dies verboten ist). Wichtig ist aber, dass wir überhaupt Werten folgen, diese Werte reflektieren und in einen wenn nötig interkulturellen Diskurs stellen. Wir dürfen nicht alles einfach der kapitalistischen oder militärischen Verwertungslogik überlassen. Das wäre fatal.

Und was Technologien mit uns Menschen machen, das können wir heute schon beobachten. Schauen Sie doch nur mal heutige Teenager an, wie sie mit ihren Smartphones kommunizieren oder im Internet surfen. Diese Geräte sind geradezu Teil ihres Körpers, könnte man meinen. Und in mancher Hinsicht sind sie das auch wirklich. Das Ganze ist ein großangelegtes soziales Experiment mit sehr ungewissem Ausgang.


- Was können wir Ihrer Meinung nach tun, um einer negativen
Verselbständigung der Technologien entgegenzuwirken? Gibt es
überhaupt etwas, das der Einzelne dagegen tun kann?

Wir können natürlich etwas dagegen tun. Der gesamte dritte Teil des Buches beschäftigt sich beispielsweise damit, wie wir alle gemeinsam den technologischen Fortschritt gestalten können, statt ihn einer Elite von Experten-Wissenschaftlern oder Nicht-Experten-Politikern, oder noch schlimmer den kommerziellen oder militärischen Interessen einzelner Firmen oder Staaten zu überlassen.

Dies erfordert demokratisches Engagement eines jeden von uns – was die Pflicht zur Information einschließt. Dabei ist auch eine richtige innere Haltung wichtig. Hierzu zähle ich insbesondere zwei Dinge:

a. das aufrichtige und uneingeschränkte Streben nach Wahrheit und einem ehrlichen Erfassen des Status quo,

b. eine bedingungslose Unbestechlichkeit, die von Interessen frei ist

Wir müssen eine Haltung der intellektuellen Redlichkeit bei Politikern und anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern einfordern. Das heißt, dass bewusste Unwahrheiten, Informationsverzerrungen und -verschmutzung oder Informationsfilter zum Zwecke der Durchsetzung partikularer Interessen auf moralischer wie politischer Ebene bekämpft werden. Gerade in einer Zeit, in der „FakeNews“ ihre destruktive propagandistische Macht entfalten und erschreckend viele Politiker noch immer ernsthaft den Klimawandel oder die Darwin’sche Evolutionstheorie bezweifeln, gewinnt dieser Punkt an Bedeutung. Das Gebot der intellektuellen Redlichkeit gilt aber ebenso für die Empfänger von Information. Intellektuelle Redlichkeit bedeutet auch, sich auf unangenehme Wahrheiten einzulassen, ohne sich etwas vorzumachen. Wir müssen uns darin üben, nicht allzu schnelle Schlüsse zu ziehen, Vorurteile abzubauen, uns, wenn nötig, auf komplexe Zusammenhänge einzulassen, ohne alles gleich vereinfachen zu wollen, sowie zuletzt unangenehme Wahrheiten zuzulassen. Ein jeder von uns sollte sich um einen breiten rationalen, informations- und faktenbasierten Diskurs zu technologischen Fragen bemühen.

Ich habe das, was wir alle tun können am Ende des Buches als eine Art Manifest zusammengefasst. Und zwar unter den Rubriken:

a. Mitspracherecht und -pflicht für Alle
b. Gemeinschaftliche Werte und Sinngebungen
c. Klarheit im Denken und Handeln
d. Neue Wirtschaftsstrukturen und Sozialsysteme

Es lohnt sich garantiert, da mal reinzuschauen!

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Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. Im August erscheint sein neustes Buch „Supermacht Wissenschaft“ (2017) beim Gütersloher Verlagshaus.
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Eintrag vom: 15.09.2017  




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