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Dienstag, 3. Dezember 2024
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Gespräch mit Sylvia Löhken über ihr Buch „Leise Menschen – gutes Leben“
- Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass Ihr Thema die leisen Menschen sind?

Das Thema hat sich über Jahre hinweg entwickelt. Im Nachhinein sehe ich zwei Gründe.

Erstens bin ich selbst introvertiert und habe schon als Kind oft den Eindruck gehabt, dass ich bestimmte Dinge deutlich anders wahrnahm als andere. Zum Beispiel fand ich Kindergeburtstage anstrengend. Und ich schrieb lieber Klassenarbeiten, anstatt mich fleißig zu melden. Feiern und mündliche Beteiligung habe ich dann zwar gelernt – und alle Erwachsenentätigkeiten, die dem entsprechen –, aber Energie kosten beide noch immer.

Zweitens habe ich immer gern mit Menschen gearbeitet, die ebenfalls leise sind. Viele meiner Kunden und Klientinnen sind in der Wissenschaft tätig, in der Verwaltung oder im IT-Bereich. Ich konnte die Probleme, denen Intros im Alltag begegnen, natürlich ziemlich gut verstehen, und ich habe für viele dieser Probleme Lösungswege entwickelt, die einen Versuch wert sind.

Dass der Weg vom Nachdenken zum ersten Buch so lange gedauert hat, beweist: Wir Intros brauchen manchmal ein wenig länger – was übrigens nichts mit Intelligenz zu tun hat. Wenn wir aber etwas als wichtig erkannt haben, dann bleiben wir gern dran.

- In Ihren Büchern stützen Sie sich auf wichtige Forschungsergebnisse zum Thema Intro- und Extroversion. Können Sie uns einen Überblick geben?

Die Forschung ist spannend: Einerseits haben wir über das Thema solide gesichertes Wissen, andererseits hat sich in den letzten Jahren noch einmal viel Neues ergeben.

Carl Gustav Jung definierte schon 1921 in seiner Arbeit „Psychologische Typen“ die Intro- und Extroversion als Merkmale, die unseren Persönlichkeitskern tief prägen. Ob wir „Intro“ (nach innen gewandt) oder „Extro“ (nach außen gewandt) sind, ist dabei keine Entweder-Oder-Entscheidung: Denn wir sind alle Mischungen aus Eigenschaften, die in verschiedenen Bereichen des Gehirns angesiedelt sind und die uns „nach innen“ oder „nach außen“ ausrichten.

Hier kann die neuere Forschung konkrete Ergebnisse liefern, die zeigen, dass unsere Persönlichkeit eine neurobiologische Grundlage hat.

Ausschlaggebend für den Unterschied zwischen Intros und Extros ist dabei,
- wie viel Stimulation von außen wir schätzen und ertragen können,
- wie ausführlich wir unseren Gedanken nachgehen und wie lang das dauert,
- wie viel Ruhe beziehungsweise Aktivität wir benötigen, damit es uns gut geht und
- wie risiko-, belohnungs- und sicherheitsorientiert wir sind.

Die meisten Menschen haben eine erkennbare Tendenz zur Intro- oder Extro-Seite. Diese ist angeboren, wird aber erst während des Heranwachsens im Kontakt mit anderen Menschen stabil: Denn das Gehirn ist ja mit der Geburt noch lange nicht fertig entwickelt.

- Ganz provokant gefragt: Sind laute Menschen nicht automatisch glücklicher und erfolgreicher, weil sie sich besser verkaufen können und sich häufiger durchsetzen?

Nö. Denn was wir unter Glück und Erfolg verstehen, hängt eben von unserer Persönlichkeit ab. Menschen verstehen ganz unterschiedliche Dinge als Belohnung. Biologisch heißt Belohnung: Der Nucleus accumbens leuchtet auf, Dopamin wird ausgeschüttet. Der Auslöser kann aber alles Mögliche sein: ein Leseabend oder eine Party, ein Börsenhoch oder eine Bergwanderung, die Beförderung oder zwei Stunden für die Arbeit an einem Lieblingsthema. Und manchmal, am ungesunderen Ende der Skala, auch die nächste Flasche oder der nächste Ausflug ins Spielcasino ...

Die interessanten Fragen sind deshalb: Was genau ist für mich eine Belohnung? Wann spüre ich Glück? Was gilt in meinem Leben als Erfolg? Und was mache ich daraus? Natürlich gibt es auch Hindernisse. Aber die sollten nicht das letzte Wort haben, wenn es um unsere Lebenszeit geht.


Damit das nicht so abstrakt bleibt, hier zwei Beispiele:
Ich habe, während das Buch entstand, mit Boris Grundl gesprochen, der als junger Mann durch einen Unfall zum Querschnittsgelähmten wurde. Heute ist er ein erfolgreicher Redner und Unternehmer im Rollstuhl, der vielen anderen Menschen Mut macht: Menschen mit gesunden Körpern, die aber bei ihm etwas suchen, was sie selbst gern hätten.

Ein anderes Beispiel ist die Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch, die die Verbindung zwischen Sprache und Machtverhältnissen so klar und beharrlich herausarbeitete, dass sie sich in ihrer Community so richtig unbeliebt machte. Sie berichtet, dass sie das die Professur kostete, die sie sich so gewünscht hatte. Und gleichzeitig hat sie durch ihren ganz eigenen Weg einen großen Einfluss darauf genommen, wie wir heute mit Sprache und mit dem Geschlechterunterschied umgehen. Als unabhängige Forscherin – eigentlich ist sie eine Gelehrte – kann sie sich auch gut ernähren und ihrem Wissensdurst nachgehen.

- Was sind die besonderen Stärken, die Intros auszeichnen?

Ich habe zehn Stärken vorgeschlagen, die im Grunde alle Menschen haben können, die bei Intros mit ihrer neuronalen Ausstattung besonders häufig vorkommen: Vorsicht, Konzentration, Substanz, Zuhören, Ruhe, Unabhängigkeit, analytisches Denken, Schreiben, Beharrlichkeit, Einfühlungsvermögen.
Auf diesen Stärken baut übrigens das Buch auf. Ein gelungenes Leben hat viel mit der Fähigkeit zu tun, die eigenen Stärken zu erkennen und zu nutzen. Und dafür andere Dinge niedriger zu hängen.

- Wie gelingt es Intros, ihren Wünschen und Vorstellungen gemäß zu leben? Gibt es ein Geheimrezept?

Die US-Countrysängerin Dolly Parton, eine Power-Extrovertierte, hat dazu etwas Kluges gesagt: „Finde heraus, wer du bist – und dann tu es mit Absicht!“ Die Intro-Version dazu: Erkunden Sie Ihre Stärken, Ihre Hürden, Ihre Bedürfnisse – und dann gestalten Sie Ihr Leben so, dass die Stärken zur Geltung kommen, die Hürden Sie nicht behindern und Ihre Bedürfnisse Raum haben.

- Als Coach und Speakerin sind Sie in einer eher lauten Branche unterwegs. Hätten Sie es als Extro da nicht einfacher?

Einfach ist für viele beharrliche Intros erst einmal kein Kriterium. ☺ Viel wichtiger scheint mir zu sein, dass ich das tue, was mir wirklich wichtig ist und am Herzen liegt. Der nächste Schritt ist dann, danach zu fragen, wie ich diese Aufgabe, wenn ich sie einmal gefunden habe, als Intro gestalte.

- Auch Angela Merkel und Günter Jauch gelten als introvertierte Persönlichkeiten. Welche Anregungen für ein gutes Leben würden Sie ihnen geben?

Die letzte Antwort gilt auch für diese beiden Personen. Ich vermute, diese beiden prominenten Intros haben schon vieles hinbekommen in Sachen gutes Leben. Sonst könnten sie ihre Knochenjobs kaum über viele Jahre hinweg tun. Fällt Ihnen auch auf, dass wir über ihr Privatleben so gut wie nichts wissen? ☺


- „Leise Menschen – gutes Leben“ ist der Titel Ihres neuesten Buchs und zugleich der Abschluss einer Trilogie zum Thema Introversion. Muss man die beiden VorgängerBücher gelesen haben, um den dritten Band zu verstehen?

Ganz bestimmt nicht – großes Ehrenwort! Aber wer die beiden ersten Bücher gelesen hat, wird garantiert neue Anregungen finden.

- Und zum Schluss: Was machen Sie, wenn Sie das Gefühl haben, mal „laut“ sein zu müssen, werden Sie dann auch mal laut?

*schweig* ☺


Dr. Sylvia Löhken ist Rednerin, Coach und Trainerin. Als leiser Mensch hilft sie anderen Intros bei der Verwirklichung ihrer beruflichen und privaten Ziele. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Wissenschaftlerin und Managerin in einer großen internationalen Organisation kennt sie wichtige Arbeitsumfelder ihrer Kunden und ist in so verschiedenen Feldern wie Management, Kommunalpolitik und Forschung tätig. Sylvia Löhken lebt mit ihrer Familie in Bonn, hat eine Vorliebe für das leise Japan, in dem sie drei Jahre in einer leitenden Position tätig war.

Das aktuelle Buch „Leise Menschen – gutes Leben“ bildet den Abschluss der Bestseller-Trilogie zum Thema Introversion. Voraus gingen die beiden Bände „Leise Menschen – starke Wirkung“ (2012) und „Intros und Extros“ (2014) mit Übersetzungen in 20 Sprachen und mit 500.000 weltweit verkauften Exemplaren.

www.intros-extros.com

Leise Menschen – gutes Leben
Das Entwicklungsbuch für introvertierte Persönlichkeiten
GABAL Verlag, Hardcover, 288 Seiten
Format: 15,6 x 23 cm
€ 24,90 (D) / € 25,60 (A)
ISBN: 978-3-86936-800-9

Auch als E-Book erhältlich
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Eintrag vom: 13.09.2017  




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