Flirten ist keine Rumkriegsführung, sondern ein Spiel. Wie jedes Spiel will es gekonnt sein
Von Christoph Quarch
Gotthold Ephraim Lessing, den man nicht unbedingt als Draufgänger oder Halodri kennt, legte in seiner Emilia Galotti der Mutter der Titelheldin ein denkwürdiges Wort in den Mund. Ihrer Tochter hält sie vor, sie sei die „Sprache der Galanterie zu wenig gewohnt. Eine Höflichkeit wird in ihr zur Empfindung, eine Schmeichelei zur Beteurung, ein Einfall zum Wunsche, ein Wunsch zum Vorsatze. Nichts klingt in dieser Sprache wie alles, und alles ist in ihr so viel als nichts.“ Die Frau hätte auch sagen können: „Du verstehst nicht von der Kunst des Flirtens“. Zur Zeit von Lessing wäre das ein hartes Wort gewesen, lebte er doch in einer Welt, in der das Flirten – damals nannte man es noch Galanterie – durch alle gesellschaftlichen Kreise hindurch in höchstem Ansehen stand. Er war eine Kulturform, die es zu beherrschen galt. Und wer dies nicht tat, machte sich – so wie die arme Emilia – lächerlich. Das ist heute anders geworden. Nicht, weil sich nicht mehr schämen müsste, wer die Kunst des Flirtens nicht beherrscht, sondern weil diese Kunst nicht mehr geübt wird. Es wird nicht mehr geflirtet. Gäbe es so etwas wie ein Museum der menschlichen Umgangsformen: der Flirt hätte darin eine ansehnliche Schauvitrine verdient.
Wer andere anmacht, geht auf Beute aus
Womöglich regt sich Widerspruch: Wird denn nicht überall geflirtet – in Bars und Diskotheken, Kantinen und Hörsälen, Chefetagen und Kaschemmen? Gewiss, es sieht so aus, als werde dort geflirtet. Die Frage aber ist, ob das, was dort geschieht, tatsächlich auch ein Flirt ist: ob dort jene Sprache gesprochen wird, in der „nichts wie alles“ und „alles so viel als nichts klingt.“ Oder ob diejenige Art der Konversation, die dort vollzogen wird, nicht vielmehr das ist, wofür die deutsche Sprache das unschöne Wort „Anmache“ bereithält.
Es wäre nicht wunderlich, denn Anmache liegt voll und ganz im Zeitgeist – was man vom galanten Flirt nicht wirklich sagen kann. Anmache ist ein zweckgerichtetes Handeln. Wer einen anderen Menschen anmacht, will etwas erreichen – will etwas von ihm oder von ihr. Beim Anmachen, geht es um die Beute, das Ergebnis, das konsequent verfolgt wird und das maßgeblich ist für das Gelingen oder das Misslingen dieses Unterfangens. Für die Anmache, nicht für den Flirt, trifft zu, was einst Marcello Mastroianni zu Protokoll gab: „Ein Flirt ohne tiefere Absicht ist ungefähr so sinnvoll wie ein Fahrplan ohne Eisenbahn.“
Verlust der Unbefangenheit
Wenn dieses Wort am Flirt vorbeizielt, was heißt Flirten dann? Die Antwort ist nicht schwer: Flirten ist Spielen, der Flirt ist ein Spiel mit Worten. Und so wie jedes Spiel – da hat Emilias Mutter recht – muss man sich darin üben, um es zu beherrschen oder es gar zur Meisterschaft darin zu bringen. Am wichtigsten dabei ist aber, dass man sich den spielerischen Geist bewahrt. Und eben der droht heute auszusterben: Man spielt nicht mehr mit jener Unbefangenheit, mit der die Menschen noch zu Lessings Zeiten spielten. Man spielt nicht mehr, um sich an seinen Spielen zu ergötzen. Sondern man spielt, um dabei zu gewinnen: den Jackpot, die Trophäe oder eben – bei der Anmache – die Frau oder den Mann, die man begehrt.
Wer bei seinem Handeln aufs Ergebnis, auf den Output oder den Profit starrt, ist aber kein Spieler, sondern ein Geschäftsmann; ein Wolf im Schafspelz, könnte man auch sagen. Es geht ihm nicht darum, mit einem anderen Menschen eine gute Zeit zu verbringen, die sich vollkommen selbst genügt und ihren Wert ausschließlich im Vollzug der Praxis hat. Nein, er will effizient und funktional das avisierte Ziel erreichen. So denkt der Mensch, den man den homo oeconomicus genannt hat – der Menschentypus, der in unserer Welt allgegenwärtig ist. Der homo oeconomicus jedoch ist unfähig zu spielen. Nein, schlimmer noch: Er ist ein Spielverderber. Und deshalb bleibt ihm nur die Anmache. Das Spiel des Flirtens ist ihm verwehrt.
Den Geist heben, die Seele nähren
Anders verhält es sich mit der Art von Mensch, die man den homo ludens nennt: der spielende Mensch. Ihm geht es nicht um den Gewinn, den er am Ende einstreicht, sondern ausschließlich um den guten Spielverlauf. Die Meisterin oder den Meister des Flirtspiels erkennt man darin, dass es ihr oder ihm gelingt, im Wechselspiel der Schmeicheleien eine Atmosphäre zu erzeugen, die den Geist hebt und die Seele nährt. Die Kunst des Flirts lässt sich mit der Musik vergleichen: zwei Spieler stimmen sich improvisierend aufeinander ein, bauen sich aneinander auf, erzeugen eine Spannung, die es ihnen möglich macht, sich leichtfüßig und elegant dem anderen zu zeigen. Und das hat seinen Wert in sich. Da fragt man nicht nach einem Output. Täte man es, der Zauber jenes Spiels würde sofort verfliegen und es bliebe nur ein kaltes, graues Business.
Im 18. Jahrhundert wusste man das noch. La Rochefoucauld traf die Sache recht genau, als er bemerkte, Galanterie bestehe darin, „leere Dinge auf angenehme Weise zu sagen“. Wenn Sie so etwas verwerflich finden, zeigen Sie damit, wie sehr Ihr Geist vom homo oeconomicus besetzt ist. In Wahrheit ist es gar nicht schlimm, auf angenehme Weise leere Dinge zu sagen, wenn denn die leeren Dinge den Menschen eine Freude machen. Und weil es genau darum geht, sind Spiele eine ernste Angelegenheit. Ihr Sinn besteht durch nicht darin, dass das Ich des Spielers den Gewinn einstreicht; sondern dass die Spielenden gemeinsam ihre Seele nähren. Und das ist auch der Sinn des Flirtens.
Verbindlich-unverbindliche Zärtlichkeit
Jedes Spiel hat seine Grenze – räumlich und zeitlich. So auch der Flirt. Wenn er vorbei ist, ist er vorbei. Wer wirklich flirtet, kann den Flirt verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Flirtenden teilten eine gute Zeit. Was will man mehr? Der Sinn des Flirts hat sich darin erfüllt. Und darin liegt die Schönheit, die ihm eigen ist: Zwei Menschen kamen sich auf eine spielerische Weise nahe. Vielleicht spielten sie mit dem Feuer, aber es blieb ein Spiel, das einzig dazu diente, einander wohlzutun und das Gegenüber mit Worten zu umschmeicheln. Der Flirt ist eine unverbindliche und dabei doch verbindende Zärtlichkeit, eine heitere Tändelei, die keine Spuren hinterlässt. Wobei man nicht verschweigen sollte, dass Catherin Deneuve nicht falsch lag, als sie sagte: „Ein Flirt ist wie eine Tablette: Niemand kann die Nebenwirkung genau voraussagen.“
Das ist wohl so, doch sollte es niemanden davon abhalten, diese Tablette gelegentlich einzuwerfen und sich dieses Spielvergnügen zu versagen. Nur eines ist dabei wichtig: dass Sie als Flirtender oder Flirtende Ihre Flirtpartner nicht darüber im Unklaren lassen, dass Sie sie eben nicht anzumachen gedenken, sondern einfach eine gute Zeit mit ihnen teilen wollen. Und das kann richtig Freude machen.
Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit „ZEIT-Reisen“.
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