Warum Europa seine kulturelle Identität wiederentdecken muss
Von Christoph Quarch
Ist Europa noch zu retten? Die Antwort kann nur eine sein: Ja, Europa ist zu retten. Und es ist gar nicht schwer. Das einzige, was Not tut, ist Besinnung: Europa wird zu retten sein, sofern wir Europäer uns daran erinnern, was Europa ist, wofür Europa steht, woher Europa kommt und welcher Geist in ihm lebendig ist. Denn nur der Geist Europas wird Europa retten.
Was ist der Geist Europas? Die Frage weist auf die Geschichte. Der Geist Europas zeigt sich dort am klarsten, wo er zum ersten Mal erschien: im alten Griechenland. Seine Wiege ist Delphi – der Ort, den man im Altertum für das Zentrum der Welt hielt. Dort kam ein Geist zur Welt, der ein unbedingtes „Ja“ zum Leben aussprach; ein Geist, der ein Menschentum zur Blüte brachte und dabei um die Grenze alles Lebens wusste; ein Geist des Gleichgewichts, der Harmonie und der Balance; ein Geist der Integration, des Ausgleichs, des spannungsvollen aber dabei doch ausgewogenen Miteinanders; der Schönheit, die davon lebt, nicht eintönig, sondern bunt zu sein.
„Das Beste ist das Maß“, lautet das Credo dieses Geistes: Er ist ein Geist, der sich der bunten Vielfalt und Widersprüchlichkeiten des Lebens verpflichtet weiß, dem es dabei jedoch darum zu tun ist, diese Vielheit so zu arrangieren, dass sie sich zu einem schönen und stimmigen Ganzen fügt. Dieser Geist inspirierte rund um das Städtchen Delphi einen Staatenbund, die sogenannte Amphiktyonie, dem zwölf Städte angehörten, die wie die Planeten um ihr geistiges Zentrum Delphi kreisten. Ein solches Gravitationszentrum braucht auch das heutige Europa: ein geistiges Zentrum, dessen Werte und Ideale die Kraft haben, das politische System Europa von innen heraus zusammenzuhalten und auf einander ein- und abzustimmen.
Der Geist, der einst in Delphi mächtig war, hatte diese Kraft. Und ihm ist zuzutrauen, dass er auch dem heutigen Europa einen inneren Zusammenhalt zu stiften vermag. Wuchs doch aus ihm die Attische Demokratie, die von der Idee beseelt war, dass Harmonie sich am ehesten da in einer Polis verwirklichen lasse, wo die Bürger selbst das Wohl und Wehe ihrer Stadt verantworten. Auch wuchs aus ihm die klassische Idee der Schönheit, von der Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durchdrungen war. Das freie Denken und die Wissenschaft sind seine Früchte. All das, was die Identität Europas im Guten prägt, stammt aus dieser Quelle.
Sie trägt auch weiter als die Religionen: Der Geist von Delphi war kein strenger Monarch oder Gesetzgeber, sondern einer, der die Menschen anhielt, selber zu erwägen, wie sie das Leben auf eine harmonische und stimmige Weise gestalten könnten: „Erkenne dich selbst“, rief er denen zu, die ihm huldigten. Man möchte dieses Wort an Europa weitersagen: „Erkenne dich selbst!“ Denn es tut Not, dass sich Europa seiner eigentlichen, geistigen Identität bewusst wird. Gerade jetzt, wo sich die Europäische Union mannigfaltigen Herausforderungen konfrontiert sieht, ist es an der Zeit, sich seiner Wurzeln und seines Ursprungs zu vergewissern.
Als politische Union wird Europa den aktuellen Herausforderungen – ob man nun an die Migrationsbewegungen, den Islamismus, Rechtspopulismus oder die Plage der Staatsverschuldung denkt – nur gewachsen sein, wenn die Verantwortlichen in Europas Hauptstädten begreifen, dass dieser Kontinent kein Marktplatz, sondern allem voran ein Kulturraum ist, der durch gemeinsame Werte und einen gemeinsamen Geist geschaffen wurde und erhalten wird; dass für den Fortbestand Europas deshalb nichts dringlicher ist, als diesen Geist zu fördern, was bedeutet, in europäische politische Bildung und die Förderung des geistigen Lebens bzw. der Kultur zu investieren.
Den Geist Europas zur Sprache zu bringen, ihn an die jüngeren Generationen zu vermitteln, gesamteuropäische Bildungsinstitute zu installieren: das wären sinnvolle Antworten an all jene, die Europa derzeit in Frage stellen. Europa ist nicht nur ein Wirtschaftsraum. Erst wenn das verstanden ist, wird der Geist Europas auferstehen. Und auferstehen muss er, wenn der Kontinent nicht schon wieder in Kleingeisterei und Kleinstaaterei untergehen will.
Besinnen wir uns auf den Geist von Delphi: den Geist der spannungsvollen Stimmigkeit des Lebens, den Geist der Schönheit und Balance. Wie wäre es, wenn dieser Geist lebendig wäre? Europa wäre zukunftstauglich, Europa wäre ökologisch sauber und sozial. Europa wäre schön, seine Bürger fühlten sich in ihm zuhause. Es wäre ein Kontinent des unbedingten „Ja“ zum Leben.
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Dr. phil. Christoph Quarch (geb. 1964) studierte Philosophie, Theologie und Religionswissenschaften in Tübingen, Heidelberg und Bielefeld. Christoph Quarch ist als Autor, Reiseveranstalter, Seminarleiter und Keynote-Speaker tätig. Er berät Unternehmen und hat sich als Autor von Firmenpublikationen und Unternehmensphilosophien hervorgetan. Ferner unterrichtet er als Lehrbeauftragter an diversen Hochschulen. Er ist Autor und Herausgeber von knapp 40 Büchen, darunter »Rettet das Spiel«, Hanser-Verlag, »Das große Ja«, Goldmann-Verlag, »Der kleine Alltagsphilosoph«, GU-Verlag, …Für ZEIT-REISEN ist er als philosophischer Reiseleiter tätig.
Als Redakteur und Chefredakteur (u.a. WIR - Menschen im Wandel, Publik-Forum, Forum nachh.Wirtschaften) sammelte er publizistische Erfahrungen, als Programmchef des Deutschen Evangelischen Kirchentags lernte er komplexe Gruppen zu moderieren und Themen in bühnentaugliche Veranstaltungen umzusetzen.
Christoph Quarch lebt mit seiner Familie in Fulda. |