Von Lars Jaeger
Wer sein Leben der naturwissenschaftlichen Forschung und ihren Erkenntnissen widmet, wird sich heute mit einem besonderen Begriff schwertun, der seinen Ursprung in der Philosophie hat, dessen Heimatdisziplin jedoch nie genau festzustellen vermochte, was er eigentlich genau bezeichnet: der Begriff der „Wahrheit“. Denn die Wissenschaften lehren uns die Dynamik eines ständigen Befragens des Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität und die nicht endende kritische Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Wissens und Meinens. Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz.
Diese Entwicklung besitzt eine beachtenswerte Entsprechung im politischen Raum, worauf Karl Popper prominent hinwies: In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und Machtlegitimation erkennen. Denn wie die wissenschaftliche Forschung befinden sich auch politische Entscheidungsprozesse in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich seine Träger immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. In beiden führt der Weg echten Fortschritts stets über die permanente Korrektur falscher Entscheidungen bzw. Theorien. Wie die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigier- und erweiterbar ansieht und genau damit letzthin die historisch beispiellose moderne Fortschrittsdynamik definiert hat, so vermochten auch die offenen, antiautokratischen und demokratischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder politische Fehler und Irrwege zu korrigieren und trugen somit ihrerseits zu einer zuvor nicht minder unerreichten gesellschaftlichen Wachstums- und Wohlstandsentwicklung bei.
Die Parallelität beider Prozesse ist kein historischer Zufall. Ein Markenzeichen der am höchsten entwickelten und wirtschaftlich erfolgreichsten Gesellschaften der Geschichte ist, dass diese den freien Fluss der Ideen und das uneingeschränkte wissenschaftliche Suchen zuließen und aktiv unterstützten. Umgekehrt waren es die Naturwissenschaften, die spätestens mit der europäischen Aufklärung die Herrschaftsansprüche der autoritären Machthaber untergruben, welche sich in ihrer Hegemonie immer wieder auf höhere Prinzipien berufen hatten. Wenn Gott nicht mehr in der Natur herrschte, so konnten sich seine Advokaten für ihre eigenen gesellschaftlichen Machtansprüche auch nicht mehr auf ihn berufen. Seit der wissenschaftlichen Revolution im frühen 16. Jahrhundert haben sich so die europäischen Gesellschaften bzw. ihre nordamerikanischen Ableger an die Spitze des wissenschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Fortschritts gesetzt. Akademische Freiheit war seither immer ein Tragpfeiler einer prosperierenden Gesellschaft. Unabhängige Forschung, angstfreies Lehren und Lernen, der freie Fluss der Ideen im offenen Dialog dienen also nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und dem allgemeinen Wohlstand.
So ist es ein schlechtes Zeichen, wenn diejenigen, die sich diesem Fluss am stärksten verschreiben, in ihrem Denken, Handlungen und Wirken beschränkt werden. Autoritäre Machthaber nehmen Wissenschaftler besonders gerne und früh ins Visier (neben Künstlern, Schriftsellern und anderen Nonkonformisten, sowie natürlich jeden politischen Oppositionellen). Denn: „Nichts in der Welt wird so gefürchtet wie der Einfluss von Menschen, die geistig unabhängig sind“ (Albert Einstein). Und wenn Wissenschaftler gar verfolgt, verhaftet und eingesperrt werden, so sollte spätestens jetzt klar sein: Die offene Gesellschaft und der demokratische Staat, und damit zuletzt der ökonomische Wohlstand, sind in akuter Gefahr. Die Wissenschaftler sind die Kanarienvögel in den Kohle-Minen der politischen Entwicklung.
In nahezu exemplarischer Reinheit können wir eine solche Entwicklung momentan in der Türkei beobachten. Tausende Professoren und Dozenten wurden dort seit dem Sommer suspendiert, Hochschulen geschlossen, Dekane abgesetzt, Wissenschaftlern die Reiseerlaubnis entzogen. Kurz: Wir erleben zurzeit eine massive Einschränkung akademischer Freiheiten in der Türkei. Erst kürzlich initiierte die türkische Regierung eine Verhaftungswelle gegen mehr als hundert Wissenschaftler (Quelle: die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu). Ihnen wird Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen, konkret eine Verbindungen zu dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Es ist immer die gleiche Leier in der Erdogan‘schen Repressionsmaschine. Wir kennen sie unterdessen nur allzu gut.
Wissenschaftler weltweit sind also aufgefordert aufmerksam aufzuhorchen, genau hinzuschauen und ihre fundamentale Opposition gegen die türkische Einschüchterung von Wissenschaftlern und die Einschränkung ihrer intellektuellen Freiheiten deutlich zum Ausdruck zu bringen (sowie natürlich die Einschränkung eines jeden Freiheiten). Und die türkische Regierung und Entscheidungsträger selbst sollten wissen: Sie erweisen ihrem Land und seinen Menschen einen Bärendienst. Davon können gerade die Deutschen ein Lied singen. Massenentlassungen und Drangsalierung von Wissenschaftlern besitzen in Deutschland ein trauriges Vorbild. Deutsche Universitäten verloren in den 1930er Jahren fast ein Drittel ihres Lehrkörpers, darunter Nobelpreisträger wie die Physiker Albert Einstein (dessen Relativitätstheorie nach Ansicht der Nazis „jüdische Physik” war) und Gustav Hertz, sowie den Chemiker Fritz Haber. Ganze Forschungsstätten wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung und Fachrichtungen wie die Psychoanalyse nach Sigmund Freud wurden ausgelöscht. Göttingen hatte als ein Mekka der Wissenschaft gegolten, als Weltzentrum der Mathematik. Die Nazis brauchten nur zwei Jahre, um diesen Status komplett zu zerstören. Mit all dem setzte ab 1933 eine Emigrationswelle deutscher Wissenschaftler ein, die langfristig gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung der Wissenschaft in Deutschland hatte. Historiker sprechen gar von einer „geistigen Enthauptung Deutschlands“ oder „Demontage deutscher Wissenschaft“. Vor 1933 galten die deutschen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen als die besten der Welt. Dass heute die amerikanischen diesen Ruf genießen, liegt auch an der Selbstzerstörung der Wissenschaften in Deutschland unter den Nazis. Das Land brauchte Jahrzehnte, um sich von diesem Kahlschlag zu erholen. Und die Vormachtstellung, die sich Deutschland in den ersten 33 Jahren des 20. Jahrhunderts in der Welt der Wissenschaften erarbeitet hatte, wurde bis ins 21. Jahrhundert nie wieder erreicht.
Maßgeblich für die historisch beispiellose Wohlstandschaffung im Westen während der letzten 400 Jahre war die Entstehung und Entwicklung der Naturwissenschaften. Sie formten unsere heutige Welt, und tun dies heute in immer stärkerem Ausmaß. Längst ist aus dem Wunsch nach Verstehen ein Wille zur Gestaltung geworden, der uns auf eine rasante, immer schneller werdende Fahrt in eine immer stärker durch die Naturwissenschaften und den auf ihr aufbauenden Technologien geprägte – und immer wohlhabendere – Zukunft mitnimmt. Das wusste schon Atatürk, der Vater der modernen Türkei. So sagte er:
"Auf der Welt bilden die Wissenschaften und die Technik in der Zivilisation, im Leben für Erfolge (insgesamt) den einzig wahren Führer. Außerhalb von der Wissenschaft einen Führer zu suchen, ist Gedankenlosigkeit, eine Dummheit, ein Irrweg."
(oft verkürzt zitiert: „Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft.“)
Es bleibt zu hoffen, dass sich Erdogan an dieses Einsicht seines Vorgängers und politischen Vorbildes erinnert. Falls er seine momentane Politik der Einschüchterung, Drangsalierung und Verhaftungen von Wissenschaftlern (und anderen Intellektuellen) fortführt, kommen nicht nur auf die türkische Wissenschaft und Kultur, sondern auf die Türkei als Ganzes, ihre Wirtschaft, ihren Wohlstand und all ihre Menschen schwere und leidvolle Jahre und Jahrzehnte zu. Wenn wir uns in Europa und der westlichen Welt einer solchen Entwicklung gegenüber indifferent zeigen, so könnte sich unserer eigene Zukunft als nicht weniger düster erweisen.
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Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. |