Es reicht nicht, sich über Fremdenfeindlichkeit zu empören. Wir müssen unsere politische Kultur überdenken
Von Christoph Quarch
Manchmal hilft nur Fremdschämen. Etwa angesichts der Bilder aus Clausnitz oder Bautzen. Da schämt man sich für seine Landsleute. Und diese Scham steigt aus dem tiefsten Grund der Seele auf. Denn was man sieht, spottet all dem, worauf man in diesem Land glaubte stolz sein zu dürfen: unserer politischen Kultur der Toleranz und Menschenfreundlichkeit. Man denkt: „Was sind das nur für Menschen? Sie skandieren ‚Wir sind das Volk!‘ und verhöhnen unsere Werte. Ja, schämen die sich denn gar nicht?“
Nein, diese Leute schämen sich nicht. Und auch sonst schämt sich kaum jemand in diesem Land. Stattdessen empört man sich: Die einen empören sich über Flüchtlinge, die anderen empören sich über diejenigen, die sich über die Flüchtlinge empören. Sich zu empören liegt voll im Trend. Es scheint als habe ganz Deutschland Stéphane Hessels Buchtitel „Empört euch!“ internalisiert: ganz schnell, ganz laut, ganz ungebremst. Denn wer sich empört, der fühlt sich wichtig. Und das ist es, worum es den Empörten meistens geht. Es geht ihnen um sich und darum Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Um das Gemeinwesen und dessen Wohl geht es dabei nur selten.
Scham wächst aus Verbundenheit
Sich zu empören ist das Gegenteil der Scham. Wer sich schämt, will gerade nicht gesehen werden. Im Gegenteil: Wenn wir uns für etwas schämen, meiden wir das Licht und versuchen das, wofür wir uns schämen, vor uns und anderen zu verbergen. Die Scham erträgt es nicht, sich denen zeigen zu müssen, vor denen sie sich schämt. Sie weiß, dass die, vor denen sie sich schämt, sie etwas angehen. Sie sind ihr verbindlich. Wer sich schämt, ist mit den anderen verbunden. Wer sich schämt, ist nicht auf einem Ego-Trip. Wer sich fremdschämt, auch nicht. Er käme nicht darauf, sich zu empören.
Wo sich alle empören, aber niemand mehr schämt, steht es nicht gut um Verbundenheit und Verbindlichkeit. Mangelnde Scham ist das Symptom eines Mangels an Gemeinsinn. Auch wenn es überraschend klingt: Die Scham ist eine Säule des Politischen. Die alten Griechen wussten das. So erzählt Platon in seinem Dialog „Protagoras“, der Göttervater Zeus habe in seiner Weisheit den Menschen zweierlei Gaben gewährt, auf dass sie ihren Gemeinwesen inneren Zusammenhalt und Dauer zu geben vermögen. Die eine Gabe ist das Recht, die zweite Gabe ist aidós – die Scham. Warum?
Wir sind eine schamlose Gesellschaft
Scham ist ein mächtiger Begleiter – ein unbestechlicher innerer Richter, der über unser Handeln wacht: Sie weiß, was sich gehört; sie weiß, was sich nicht gehört – weiß wem wir zugehören; weiß, wem wir nicht zugehören. Sie ist verbündet mit dem Körper und schickt die Schamesröte ins Gesicht, wenn wir entgegen unseren Zugehörigkeiten handeln und darin unserem eigenen Wesen widersprechen. Sie urteilt nicht danach, was die Moral gebietet oder was andere von uns erwarten. Sie wacht darüber, dass wir unserer selbst gemäß leben: entsprechend unserer Verbundenheit und unserer Zugehörigkeit – so, wie es sich gehört.
Wenn niemand sich mehr schämt, ist das ein Indiz dafür, dass sich niemand mehr mit anderen verbunden weiß. Stattdessen greift der unheilvolle Ungeist des Narzissmus um sich. „Hauptsache ich“ lautet sein Mantra, oder „Jetzt bin ich dran“ und „Ich schreie so wie es will.“ Ihm ist es ein probates Mittel, möglichst laut und grell, gewaltsam und brutal sich in den Vordergrund zu drängen – schamlos eben. Wer solches tut, und leider gibt es davon viele, ist zuletzt sogar stolz auf seine Schamlosigkeiten. Und das nicht nur in Bautzen oder Clausnitz, sondern genauso in Berlin, im Fernsehen, auf der Straße, im Internet. Wir sind eine schamlose Gesellschaft.
Torweg in die Freiheit
Und das kommt nicht von ungefähr. In manchen Schulen oder Kindergärten gilt es als erklärtes Ziel, den Kindern jedes Schamgefühl abzutrainieren. Kein Kind lernt heute noch, sich für irgendetwas schämen zu müssen. Dass ein Älterer einem Jüngeren ob dessen Fehlverhalten ein „Schäm dich!“ zuruft, ist gänzlich unvorstellbar. „Scham ist nicht gut für das Selbstwertgefühl“, heißt es. Dass Schamlosigkeit schlecht für die Gesellschaft ist, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Sie ist auch schädlich für den Einzelnen. Gewiss, es ist nicht schön, wenn man sich schämen muss. Die Scham wird schnell zum Schwergewicht. Wer von Schamgefühlen geplagt ist, kapselt sich ab und wünscht, seine Verbindungen zu kappen. Bis der Druck unerträglich wird und die Scham ihn zwingt, seine Scham zu überwinden. Wo das geschieht wird sie zum Torweg in die Freiheit. Wer seine Scham zu zeigen wagt und offenbart, wofür er sich schämt, hat die echte Chance, sich zu verwandeln und zu reifen.
Gemeinsinn pflanzen
Deshalb ist man versucht, all den Empörten dieses Landes zuzurufen: „Schämt euch!“ – „Schämt euch für die Schamlosigkeiten eines aufgebrachten Mobs, schämt euch für die Schamlosigkeiten all der Narzissten in Politik und Wirtschaft, schämt euch für die Schamlosigkeiten in den Medien und sozialen Netzwerken (wenn diese nicht schon längst zu asozialen Netzwerken mutiert sind, um Marc-Uwe Kling zu zitieren). Schämen wir uns, weil wir alle es versäumt haben, diesen Menschen Scham beizubringen; weil wir es unterlassen haben, ihnen zu sagen, dass sie sich dafür schämen sollten, andere Menschen wie Dinge zu behandeln oder ihnen mit Gleichgültigkeit zu begegnen; dafür, dass sie keine Verbindlichkeit mehr anerkennen.
Statt sich in fruchtloser Empörung zu ergehen, sollten wir uns schämen, unsere Scham eingestehen und unsere politische Kultur überdenken. Wir müssen mutiger dafür eintreten, den Gemeinsinn in den Herzen und Köpfen der Menschen zu pflanzen. Wir brauchen eine politische Kultur, die darauf Wert legt, dass sich zu schämen hat, wer nur an sich denkt und die Haltung ausprägt: „Was geht mich der andere an?“ Verbannen wir die Scham aus der Gesellschaft, bleibt als deren Kitt nur noch die zweite Göttergabe: das Recht. Das alleine aber ist zu wenig.
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zum Autor:
Dr. phil. Christoph Quarch, 1964 in Düsseldorf geboren, Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler, arbeitet freiberuflich als Autor, Publizist, Seminarleiter, Redner und Berater. Er ist Gründer und Herausgeber der Zeitschrift „Wir - Menschen im Wandel“ und Lehrbeauftragter für Ethik an der FH Fulda. Von 2000 bis 2006 war er Programmchef des Deutschen Evangelischen Kirchentags; von 2006 bis 2008 Chefredakteur von „Publik-Forum“. Autor und Herausgeber von über 30 Büchern.
Christoph Quarch lebt mit seiner Familie in Fulda. |