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Buchtipp: Hannes Stein "Der Komet"
Eine Welt ohne Krieg, ein Wien voller Juden und Psychoanalytiker – Der Komet ist eine Wundertüte voller Überraschungen

Der Schlüsselsatz dieses Buches findet sich ziemlich weit hinten, gesprochen wird er anno 1914, am 28. Juni, vom österreichische Thronfolger. Er lautet „I bin doch ned deppat, i fohr wieder z´haus“. Sprach‘s, kehrte auf dem Absatz um, und ging samt leicht verletzter Gattin zurück nach Wien.
Grade waren sie in Sarajewo beim Weg in die Stadt von einem Attentäter mit einer Bombe beworfen worden, die gerade noch einmal abgewehrt werden konnte – möglichen weiteren Angriffen wollte er sich und seine geliebte Frau nicht aussetzen.
Hätte er dies damals wirklich so gemacht, wäre es nie zu dem zweiten Attentat am selben Tag gekommen und die Welt könnte so aussehen, wie sie es in Hannes Steins Debütroman tut.

Es gab keinen ersten Weltkrieg und damit auch keinen zweiten, einen ‚kalten‘ solchen natürlich erst recht nicht. Seit Jahrzehnten herrscht Friede auf der Welt (von einigen japanischen Aggressionen gegen asiatische Anrainerstaaten abgesehen). Amerika ist ein unterentwickelter Kontinent, der weitgehend von Cowboys und Hinterwäldlern besiedelt ist. Technische Neuerungen gehen in aller Regel von Deutschland aus, einem weitgehend charmefreien doch hocherfolgreichen Land der Erfinder, Bastler und Tüftler: eine Art Strebernation im europäischen Staatsklassenzimmer. Frankreich, die Schweiz und San Marino sind die einzigen Republiken, der Rest Europas ist solide in der Hand uralter Monarchien.

Wien wiederum, wo Hannes Steins "Der Komet" spielt, ist das ziemlich behäbige Zentrum der westlichen und damit der ganzen Welt (denn in den britischen, französischen und deutschen Kolonien tut sich nicht viel), eine Stadt voller Juden und Psychoanalytiker (nach Freuds Tod schossen neue Schulen und Praxen wie Pilze aus dem Böden), und natürlich einem Monarchen - Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät, Franz Joseph II., von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich und König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, beiden Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem; Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; Gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg; Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen Mark und zudem Großwoiwode der Woiwodschaft Serbien.
Auf geschickteste Art weiß der seinen ausufernden Vielvölkerstaat zu lenken.

In dieser Szenerie lässt Hannes Stein seinen jungen und etwas tumben Protagonisten Alexej von Repkin eine Liaison mit einer verheirateten Gesellschaftsdame eingehen, deren Mann gerade auf dem Mond weilt (eine deutsche Kolonie, auf der der Österreicher aber in seiner Eigenschaft als k.u.k Hofastronom arbeiten darf). Die Nachrichten allerdings, die er von dort sendet, sind dramatisch. Ein Komet rast auf Kollisionskurs auf die Erde zu. Voraussichtlicher Einschlagtermin: Mitte September 2001.

Hannes Steins Roman ist nicht nur voller Gedankenkapriolen, er ist auch sprachlich ein Unikum – denn da in Steins Buch Amerika nie weltbeherrschende Großmacht wurde, ist auch das Vokabular entsprechend. Amerikanismen gibt es kaum, so manche Vokabel musste der Autor neu erfinden.

Und überhaupt – auch das ganze Erzähltempo des Romans ist ganz und gar unamerikanisch; streng genommen haben wir es gar mit einem Vertreter des altehrwürdigen Genres des philosophischen Romans zu tun. Denn so wichtig, wie die das Liebesglück der Hauptfiguren, sind in dem Buch das Schicksal eines Blumentopfs und die wirren Albträume des Enkels eines österreichischen Postkartenmalers und des Enkels des grusinischen Nationaldichters (und Bankräubers) Soselo.

Hannes Stein ist ein blitzgescheites, funkelnd-witziges und dabei auch tiefernstes Buch gelungen, das mehr Lachzündkapseln, Überraschungseffekte und Gedankensprengstoff enthält als viele Regalmeter gelehrter Abhandlungen und Analysen zum Wesen des Menschen und zur Welt- und Menschheitsgeschichte.

Verlag Galiani Berlin, 272 Seiten, EUR 18,99 (D), 19,60 (A)
ISBN 978-3-86971-067-9

Lesung am 19. März in Heidelberg
Deutsch-Amerikanisches Institut, Sofienstr. 12.
 
Eintrag vom: 14.02.2013  




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