Seit 30 Jahren beschäftigt sich der Gehirnforscher und Psychiater Prof. Dr. Manfred Spitzer mit neuronalen Netzwerken beim Menschen. Kein Wunder, dass er von Künstlicher Intelligenz fasziniert ist, denn diese verarbeitet Informationen so, wie es Gehirne auch tun: In künstlichen neuronalen Netzwerken laufen Eingangssignale über Milliarden von Synapsen und erzeugen Ausgangssignale. Doch ihr Entstehungsprozess lässt sich aufgrund der schieren Zahl und Komplexität der synaptischen Verknüpfungen nicht nachvollziehen. Wie beim menschlichen Gehirn hängen diese Verknüpfungen von Erfahrungen ab – sie sind gelernt.
Mit Blick auf die Bereiche Medizin, Militär, Klima, Verbrechensbekämpfung, Politik und Wirtschaft untersucht Spitzer ganz ohne Panikmache das revolutionäre Potential von KI-Anwendungen im Spannungsfeld von segensreichem Fortschritt und Kontrollverlust. Sein beunruhigendes Fazit: Weil sie der menschlichen Intelligenz überlegen ist, wird KI unsere Welt in einem Ausmaß verändern wie die Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks.
Medizin: Während KI bei der Krebserkennung oder Antibiotikaentwicklung höchst erfolgreich ist, zeigen US-Forschungen, dass sie dunkelhäutige Patienten in Ambulanzen häufiger abweist als hellhäutige, da von der KI der ungleiche Zugang zu Versicherungs- und Versorgungsleistungen berücksichtigt wurde.
Politische Kommunikation: Mithilfe von KI ließ sich zeigen, dass die Präsenz von negativen Aussagen über Flüchtlinge auf der AfD-Facebook-Seite mit anschließenden strafbaren Handlungen gegenüber Flüchtlingen in Zusammenhang stand und dass dieser Zusammenhang umso größer ist, je stärker Facebook genutzt wurde.
Wirtschaft: KI belegte, dass es eine Korrelation von Managerstimme und Börsenwert gibt. Aus akustischen Mustern in der Stimme von Managern kann KI Informationen über künftige Unternehmenserfolge und Misserfolge gewinnen. Bleibt abzuwarten, ob Manager bald durch Avatare mit neutraler Stimme ersetzt werden.
Militär: Entscheidungsträger wollen KI nutzen, um Unsicherheiten zu verringern: Sie wollen das Schlachtfeld klarer beurteilen, die Absichten und Fähigkeiten des Gegners erkennen. Zugleich aber schaffen unerwartetes Verhalten oder gar Ausfälle von KI-Systemen eine neue Quelle der Unsicherheit, was wiederum zu falschen Einschätzungen führen kann. Simulationen mit KI gesteuerten Drohnen mit definierter Aufgabe führten zu dem erschreckenden Szenario, dass sich die KI gegen den menschlichen Auftraggeber wandte.
Wir befinden uns definitiv in einer kritischen Phase der Entwicklung und Nutzung von KI. KI kann einerseits Leben retten, die Arbeit erleichtern, vielleicht bald Erdbeben vorhersagen oder dem Klimawandel Einhalt gebieten. Zum anderen müssen wir über reale Risiken und Gefahren von Menschen, die KI für ihre Zwecke missbrauchen, nachdenken. Und zwar gründlich. Aber auch über die Verantwortung der reichsten Unternehmen der Welt .
Dere Auor Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Seit 1998 leitet er das Psychiatrische Universitätsklinikum Ulm, Gastprofessuren führten ihn u.a. an die Harvard University. Neben der Forschung und Lehre ist er auch als Sachbuchautor erfolgreich und veröffentlichte u.a. die Bestseller Digitale Demenz (2012) und Einsamkeit (2018) im Droemer Verlag.
Droemer Verlag 2023, 336 Seiten, € 24,00 (D)
ISBN: 978-3-426-44850-2 |