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Dienstag, 19. März 2024
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Kurz-Essay

 
Kommerzieller Weltraumtransport – Utopie oder realistische Zukunftsvision?
Von Lars Jaeger

Auf dem Weg zu neuen Weltraumorten und der Nutzung dortiger kommerzieller Möglichkeiten – Eine realistische Zukunftsvision oder eine Vision, die kaum je Realität werden kann?
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Kurzessay von Wolf Gregis
Wolf Gregis mit Cover (c) Verlag Isegrimm
 
Kurzessay von Wolf Gregis
Das Scheitern in Afghanistan – Wenn der Unfallverursacher sich selbst aufarbeitet

Die NATO arbeitet „als erste internationale Organisation ihre Rolle in Afghanistan in einem internen Prozess“ auf, so das Auswärtige Amt. Am 1. Dezember trafen sich dazu die NATO-Außenminister in Riga.

Das Scheitern des zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes intern aufzuarbeiten, um sich künftig „erreichbare Ziele“ zu setzen, ist als überließe man im Straßenverkehr einem Unfallfahrer die Aufnahme, Auswertung und Beurteilung des selbstverschuldeten Unfalls. Der Verursacher würde dann selbst entscheiden, ob er sich künftig im Straßenverkehr anders verhalten wolle oder eben nicht. Externe Experten bräuchte er nicht, er war ja dabei und wüsste, worum es ging. Von den Opfern ganz zu schweigen, die bräuchte es erst recht nicht.

59 deutsche Soldaten starben in Afghanistan, Aberhunderte wurden verletzt, Tausende traumatisiert. Den höchsten Preis zahlten aber die Afghanen selbst. Hunderttausende Tote, Millionen auf der Flucht. Ein Land, das aufgebaut werden sollte, liegt noch immer in Trümmern, politisch, wirtschaftlich und menschlich. Es herrschen wieder die Alten: islamistische Taliban.

Nein, die Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes darf nicht den NATO-Außen- und Verteidigungsministerien allein überlassen werden. Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung. Auch in der Literatur.

Romane dienen bei „gesellschaftlichen Selbstverständigungen oft von ganz alleine als Komplexitäts-Ausleuchter“ (Florian Kessler, Die ZEIT), gerade dann wenn sie über Innenansichten zu der Öffentlichkeit verschlossenen Themen verfügen. Der Roman „Sandseele“ ist der einzige deutsche Afghanistan-Roman, dessen Autor den Hindukusch als Offizier mit eigenen Augen sah. Jenseits pauschaler Oberflächenurteile sucht er nach den verborgenen Antworten auf die Frage: Warum ist der Einsatz gescheitert? Und wie fühlt sich das für den einzelnen Soldaten an? Damals und heute.

Damit die Aufarbeitung des Scheiterns nicht nur dem Unfallverursacher überlassen bleibt.

Wolf Gregis, 1981 in Wismar geboren, lebt heute in Rostock.
Er studierte Germanistik, Geschichte, Bildungswissenschaften und Sprachliche Kommunikation und Kommunikationsstörungen in Rostock. Im Rahmen seiner Dissertation forscht und arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Darüber hinaus unterrichtet er Deutsch und Geschichte.

Hinter dem Pseudonym Wolf Gregis verbirgt sich der Afghanistan-Experte Christian Taszarek, der 2008-2009 in Mazar-e-Sharif und Kabul als Offizier die afghanische Nationalarmee begleitete. Seine Erfahrungen als Bundeswehroffizier in Afghanistan thematisierte er bereits in „Afghanistan surreal. Wahrnehmungen eines deutschen Soldaten“ (2013). Für die Arbeit an seinem Romandebüt „Sandseele“ erhielt er 2020 das Literaturstipendium der Hanse- und Universitätsstadt Rostock.
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Lars Jaeger "Googles neuer Quantencomputer"
Erleben wir gerade einen Sputnik-Moment in der Informationstechnologie?

"Ein Begriff, der den meisten Menschen so unheimlich-bizarr wie aufregend-futuristisch vorkommt, drängt in die Sphäre der öffentlichen Aufmerksamkeit. Er kombiniert die technologische Allmacht des digitalen Rechnens mit der ehrfurchteinflössenden Komplexität und Abstraktheit der bedeutendsten physikalischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Die Sprache ist vom Quantencomputer. Er verspricht eine neue technologische Revolution, die das 21. Jahrhundert ähnlich stark prägen könnte wie die Entwicklung digitaler Schaltkreise das 20. Jahrhundert formte.

Lange waren Quantencomputer Stoff für Science-Fiction und ihre Realisierung lag weit in der Zukunft. Doch bekannterweise nähert sich uns die Zukunft immer schneller. Nun hat Google durchsickern lassen, dass ihnen die Konstruktion eines ersten Quantencomputers gelungen sei, der ein Problem lösen kann, an dem sich ein herkömmlicher Computer die Zähne ausbeisst. Konkret habe der Computer-Chip Sycamore für eine spezielle Rechenaufgabe, für die der weltbeste Supercomputer 10 000 Jahre benötigt, gerade einmal 200 Sekunden gebraucht. Google selbst hat die Eigenschaft eines Quantencomputers, jedem existierenden klassischen Computer bei der Bewältigung von bestimmten Aufgaben überlegen zu sein, bereits vor Jahren als quantum supremacy getauft. Nun scheint der Moment einer solchen „Quantenüberlegenheit* gekommen zu sein. Wir könnten also gerade Zeuge eines Sputnik-Moments in der Informationstechnologie werden. Auch wenn es sich hier eher um einen symbolischen Meilenstein handelt, da das von Sycamore gelöste Problem doch eher von sehr akademischer Natur ist, so könnte die Leistung von Google die Quanteninformationstechnologie ähnlich stimulieren wie der historische Sputnik-Moment der 1950er die Raumfahrt.

Doch was ist eigentlich ein Quantencomputer? Dazu sei zunächst gesagt: Obwohl auch herkömmliche Computer immer kleinere Bauteilen verwenden, bei denen Quanteneffekte eine wichtige Rolle spielen, so basiert ihre Funktionsweise doch prinzipiell vollständig auf der klassischen Physik. Die allen heutigen Computern zugrunde liegende, so genannte von-Neumann-Architektur sorgt dafür, dass die einzelnen Rechenschritte sequentiell, also Bit für Bit abgearbeitet werden. Diese kleinstmöglichen Informationseinheiten nehmen dabei jeweils entweder einen wohldefinierten Zustand von 1 oder 0 an. Quantencomputer hingegen verwenden in ihrem Kern direkt die Eigenschaften der Quantentheorie, womit sie einer völlig anderen Informationstheorie unterliegen Die Entsprechung des klassischen Bits ist in Quantencomputern das Quantenbit, kurz Qubit. Und Qubits haben es in sich: So können sie beispielsweise beide Zustände, also 0 und 1, simultan annehmen, sowie alle Zwischenwerte dazwischen, also z.B. „halb 1“ und „halb 0“. Dies liegt an den Möglichkeiten von Quantenzuständen, in so genannten „Superpositionen“ zu existieren, Überlagerungen sich klassisch gegenseitig ausschliessender Zustände. Diese bizarre Eigenschaft von Quantenteilchen war einst unter den Vätern der Quantenphysik Auslöser hitziger Diskussionen, die ihren Ausdruck zuletzt in dem bekannten Gedankenexperiment der Schrödinger‘schen Katze fanden. Dazu kommt, dass sich verschiedene Quantenteilchen in so genannte verschränke Zustände bringen lassen. Auch das ist eine Eigenschaft, die wir in unserer, klassischen Welt nicht kennen. Es ist, als ob die Qubits mit einer unsichtbaren Feder aneinandergekoppelt sind. Über eine „spukhafte Fernbeziehung“ (ein Begriff, den ursprünglich Albert Einstein in ironischer Absicht erfand, der diese Verschränkung für unmöglich hielt) stehen sie sozusagen allesamt direkt in Kontakt miteinander. Jedes Quantenbit „weiss“ dann, was die anderen gerade treiben.

Verschränkte Qubits liegen also in einer Superposition unendlich vieler verschiedener Zustände zugleich vor, die zugleich durch ein unsichtbares und unmessbares Band miteinander verbunden sind. Salopp gesagt: dieses Vielteilchensystem nimmt simultan alle möglichen Zustände ein. Bestimmte Zustände werden (mit einer jeweiligen Wahrscheinlichkeit) erst bei einer physikalischen Messung realisiert. Vorher sind sie objektiv unbestimmt - auch das ist wieder so eine merkwürdige Eigenschaft in der Quantenwelt. Mit Hilfe eines entsprechenden Algorithmus lassen sich nun verschränkte Qbits allesamt gleichzeitig verarbeiten. Es ist, als ob viele Schokoladenfabriken gleichzeitig ihre Fliessbänder angeworfen hätten und nun alle parallel Schokolade produzieren. Je mehr Qubits miteinander verschränkt sind, desto mehr Zustände können parallel verarbeitet werden. Anders als in herkömmlichen Computern, deren Rechenleistung linear mit der Anzahl der Rechenbausteine steigt, erhöht sich damit die Leistung eines Quantencomputers exponentiell mit der Anzahl der eingesetzten Qubits. Die Leistung eines Quantencomputers verdoppelt sich also nicht erst, wenn zu 100 Qubits weitere 100 Qubits hinzugeschaltet werden, sondern bereits, wenn nur ein einziges Qubit zu den 100 Qubits hinzugefügt wird. Kommen 10 dazu, vertausendfacht (genauer 1024-fach) sich seine Leistung, bei 20 neuen Qubits ist der Quantencomputer bereits eine Millionen Mal so schnell, bei 50 neuen Qubits eine Millionen Milliarden Mal. Und bei 100 neuen Informationsträgern, wenn sich die Leistungsfähigkeit eines klassischen Computers gerade mal verdoppelt hat, lässt sich die Erhöhung der Leistungsfähigkeit eines Quantencomputers kaum mehr in Zahlen benennen. Mit dieser enormen Macht der Parallelrechnung liessen sich Probleme lösen, die selbst für die heute in Physik, Biologie, Wetterforschung und anderswo eingesetzten „Supercomputer“ noch bei weitem zu schwierig zu verarbeiten sind.

Bei näherer Betrachtung lässt sich ist die massive Parallelisierung durch verschränkte Zustände allerdings nicht ganz mit parallel arbeitenden Schokoladenfabriken vergleichen. Information, die in verschränkten Systemen gespeichert und verbreitet wird, ist sehr verschieden von der Information die von gewöhnlichen digitalen Computern verarbeitet wird. Quantencomputer arbeiten nicht im wörtlichen Sinne parallel, sondern sie organisieren die Information so, dass diese über sehr viele verschränkte Komponenten des Gesamtsystems verteilt ist Man stelle sich ein Buch mit 100 Seiten vor. Für ein gewöhnliches klassisches Buch gilt, dass jedes Mal, wenn man eine Seite liest, man weitere 1% des Inhalts des Buches erfasst hat. Nachdem man alle Seiten einzeln gelesen haben, weiss man alles, was im Buch steht. Bei einem Quantenbuch, in dem die Seiten miteinander verschränkt sind, liegen die Dinge anders. Betrachtet man darin die Seiten einzeln, sieht man nur zufälliges Kauderwelsch, und nachdem man alle Seiten nacheinander gelesen hat, weiss man immer noch sehr wenig über den Inhalt des Buches. Denn in einem Quantenbuch die Information nicht auf den einzelnen Seiten aufgedruckt ist, sondern fast ausschliesslich in der Korrelation der Seiten untereinander kodiert ist. Wer das das Buch lesen will, muss also alle Seiten gleichzeitig betrachten.

Fünf Felder, deren Probleme heutige Computer – und seien sie noch so gross – überfordern, sollen aufzeigen, welche fantastischen Möglichkeiten sich mit einem Quantencomputer eröffnen:

1. Kryptographie: Heute gängige Verschlüsselungen beruhen auf der Re-Faktorisierung der Produkte zweier sehr grosser Primzahlen. Ab einer bestimmten Zahlengrösse ist diese Aufgabe für einen klassischen Computer nicht mehr zu lösen. Der Informatiker Peter Shor entwickelte 1994 einen Algorithmus, mit dessen Hilfe ein Quantencomputer die grössten Produkte heute verwendeter Primzahlen innerhalb von Minuten in ihre Teiler faktorisieren könnte.

2. Lösung komplexer Optimierungsaufgaben: Die Aufgabe, aus vielen Varianten die optimale Lösung zu finden, gilt unter Mathematikern als besonders knifflig. Solche Probleme treten in der industriellen Logistik, im Design von Mikrochips oder auch in der Optimierung von Verkehrsflüssen auf. Bereits bei einer geringen Zahl von Varianten steigen klassische Computer bei der Berechnung optimaler Lösungen aus. Quantencomputer könnten solche Optimierungsprobleme dagegen in vergleichsweise kurzer Zeit lösen.

3. Bedeutende Anwendungen könnten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz liegen: Die dort verwendeten „tiefen neuronale Netze“ sind mit harten kombinatorischen Optimierungsprobleme verbunden, die von Quantencomputern weitaus schneller und besser gelöst werden können als von klassischen Computern.

4. Suche in grossen Datenbanken: Beim Durchsuchen unsortierter Datenmengen muss ein klassischer Computer jeden Datenpunkt einzeln betrachten. Die Suchdauer steigt daher linear mit der Anzahl der Datenpunkte und wird damit bei grossen Datenmengen für einen klassischen Computer schnell zu gross. Im Jahr 1996 veröffentlichte der Informatiker Lov Grover einen Quantencomputer-Algorithmus, für den die Anzahl der notwendigen Rechenschritte nur noch mit der Wurzel der Datenpunkte anwächst. Anstatt bei einer Milliarde Dateneinträgen tausendmal so lange zu brauchen wie bei einer Million, würde dies mit einem Quantencomputer und dem „Grove-Algorithmus“ nur noch etwas mehr als 30-mal so lang dauern – im Falle sehr grosser Zahlen eine atemberaubende Verbesserung.

5. Auffinden neuer chemischer Verbindungen: Auch bei der Simulation von Quantensystemen kommen immer wieder komplexe Optimierungsprobleme vor, bei denen es darum geht, aus vielen Alternativen die bestmögliche, d.h. energetisch günstigste Konfiguration der Elektronen in einem Atoms oder Moleküls zu finden. Theoretische Physiker und Chemiker schlagen sich seit Jahrzehnten bei eher beschränktem Erfolg mit solchen Problem herum. Quantencomputer könnten das Verhalten der beteiligten Elektronen direkt abbilden und modellieren, da sie sich selber wie ein Quantensystem verhalten. Mit dem damit möglichen besseren Verständnis von Moleküle und den Details der chemischen Reaktionen liessen sich beispielsweise neue Medikamente oder auch weit effizientere Batterietechnologien entwickeln.

Einige Physiker glauben sogar, mit einem Quantencomputer jegliche Problemstellungen in der Natur berechnen zu können, vom Verhalten schwarzer Löcher, der Entwicklung des ganz frühen Universums, der Kollisionen hochenergetischer Elementartteilchen bis hin zum Phänomen der Supraleitung und der Modellierung der 100 Milliarden Neuronen und der noch einmal eintausend mal grösseren Anzahl ihrer Verbindungen in unserem Gehirn. Auf jeden Fall lohnt es sich, in den nächsten Woche und Monaten die Wissenschaftsteil der Tageszeitung etwas genauer zu lesen."

Der Autor Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. Im August 2017 erschien „Supermacht Wissenschaft“ beim Gütersloher Verlagshaus und sein neuestes Buch „Die zweite Quantenrevolution“ erschien im August 2018 bei Springer.
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Frieden und ein Geist der Freundschaft
Was das heutige Europa von Platon lernen kann

Von Christoph Quarch

Der Zusammenhalt bröckelt. Europa steht am Scheideweg. Großbritannien hat der Europäischen Union bereits den Rücken zugekehrt, Ungarn oder Polen sind formell zwar noch dabei, haben sich jedoch von europäischen Kernwerten wie Solidarität und Rechtsstaatlichkeit abgewandt. Die Migrantenströme aus dem Süden und dem Osten haben an den Fundamenten der Union Frakturen sichtbar werden lassen, die die Statik der EU gefährden. Und als Griechenland am Boden lag, war es ausgerechnet die deutsche Regierung, die sich weigerte dem Lande wieder aufzuhelfen. Nationalen Egoismen, anheizt von rechten Populisten, geben mehr und mehr den Ton an – und die eigentliche Grundidee des europäischen Projektes gerät ins Hintertreffen.

Was Europa heute fehlt, ist ein Geist der Freundschaft – ist ein Geist des Friedens und der Freude an der bunten Mannigfaltigkeit der europäischen Kulturen und der Menschen, die hier leben. Es fehlt ein Bewusstsein dessen, was nicht nur die Europäische Union im Innersten zusammenhalten könnte, sondern auch die eigentliche Kernidee der Politik sein sollte; dann zumindest, wenn man es mit Platon (428-348 v.Chr.) hält, jenem ersten großen Denker, der sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzte, wie das Miteinander der Menschen gelingen könne.

In seinem letzten und umfangsreichsten Werk mit dem Titel ‚Gesetze‘ (Nomoi), inszenierte Platon ein eigentümliches Gespräch: Drei Männer aus drei unterschiedlichen Städten wandern gemeinsam durch die Bergwälder Kretas und diskutieren dabei Fragen der Politik. Einer von ihnen, ein gewisser Kleinias aus Kreta, hat den Auftrag, für ein neuzugründendes Gemeinwesen namens Magnesia eine Verfassung zu entwerfen. Und da trifft es sich recht gut, dass seine Wanderfreunde versierte Staatsmänner sind, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken können. Einer von ihnen stammt aus Athen. Anders als im Falle seines Kollegen Megillos aus Sparta erfahren wir seinen Namen nicht – ein Umstand der viele Interpreten zu der Mutmaßung veranlasst hat, in seinen Worten können man die vox originalis Platons hören.

Sei dem wie es sei. Das Gespräch der Männer kreist um eine Schlüsselfrage: Was ist das Ziel, der Sinn eines Gemeinwesens? Worauf sollte man sich fokussieren, wenn man ihm eine Verfassung geben soll. Den ersten Antwortvorschlag wagt der Herr aus Kreta. Unumwunden stellt er fest, „dass der Gesetzgeber der Kreter fast alle gesetzlichen Regelungen für unser öffentliches und privates Leben mit Blick auf den Krieg getroffen hat.“ Und dies sei einfach zu verstehen, wenn man sich nur klarmache, „dass stets ein lebenslanger Krieg aller gegen alle Staaten besteht“. Deshalb sei, „was die meisten Menschen ‚Frieden‘ nennen, ein leeres Wort“ und bei Lichte besehen nichts anderes als ein stets gefährdeter Waffenstillstand.

Schaut man in die Welt von heute, scheinen sich die düsteren Worte des Kreters zu bestätigen. Platons Athener aber widerspricht ihm: „Das Beste in der Politik“, so sagte er, „ist nicht Krieg noch Rebellion, sondern Friede und ein Geist der Freundschaft“ – eben jener Geist, der nach dem zweiten Weltkrieg das Projekt Europas auf den Weg brachte, und der ihm heute abhandengekommen zu sein scheint.

Auf den ersten Blick sind die zitierten Worte des Atheners nicht viel mehr als eine These – eine schöne These zwar, die jedoch einer Begründung harrt. Nun Platon wäre nicht ein großer Philosoph, wenn er sie nicht lieferte und darzulegen wüsste, warum Friede und der Geist der Freundschaft der Sinn des Politischen sind. Ja, er scheut sich nicht, zum Ausweis dieser These sehr weit auszuholen und Argumente aus der Ontologie, Kosmologie und Metaphysik zu bemühen, um sie auf ein belastbares Fundament zu stellen.

Diese Argumente verdienen heute noch Beachtung. Denn erfrischender Weise argumentiert Platon bei seiner Begründung des Politischen weder moralisch noch ideologisch. Auch beruft er sich nicht auf göttliche Offenbarungen, sondern er leitet sie her aus der Grundstruktur dessen, womit es jede Politik zu tun hat: dem Leben. Damit folgt er der Grundintuition des ältesten griechischen Denkens, dass man normative Gesichtspunkte für das menschliche Leben – des Einzelnen nicht anders als der Gesellschaft – nur gewinnt, wenn man im Sinne des delphischen Wortes „Erkenne dich selbst“ verstanden hat, was Leben eigentlich bedeutet. Oder anders gesagt: dass die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben nur zu geben weiß, wer das Leben selbst verstanden hat.

Also muss man sich nicht wundern, dass Platons Athener seinen Freunden einen langen Exkurs darüber zumutet, was eigentlich Leben ist. Die Pointe, die er dabei macht, mutet nachgerade modern an: Leben ist systemisch organisiert – und es tendiert dazu, Zustände des inneren Gleichgewichts, der Balance oder Harmonie auszubilden. Übertragen auf die Sphäre des Politischen heißt das: ein Gemeinwesen entfaltet seine Lebendigkeit – die selbstverständlich immer die Lebendigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger ist – wenn es so organisiert ist, dass jeder Einzelne sich darin frei entfalten kann, ohne dabei die Entfaltung seiner Mitbürger zu beinträchtigen; und wenn dabei ein Ganzes herauskommt, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Dafür aber brauche es den Geist des Friedens und der Freundschaft, den zu kultivieren mithin wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers bzw. der Verfassung sei.

Gewiss ist damit ein hehres und schwer erreichbares Ziel formuliert. Aber immerhin ist damit klar, woran Maß nehmen sollte, wer sich politisch engagiert: nicht an seinen oder seiner Nation egoistischen Interessen, die im Kampf gegen andere zu behaupten wären, sondern am Leben selbst; oder besser: an der Gesundheit, Blüte, Schönheit eines guten Lebens, das sich frei entfalten kann. Diesen Sinn eines Gemeinwesens in ein Gesetzeswerk zu übersetzen, ist für Platon konsequenterweise der sicherste und verlässlichste Garant für das Gelingen eines Gemeinwesens. Und vieles spricht dafür, dass dies auch heute noch für die Union Europas zutrifft. Jedenfalls ist man versucht, so manchem derer, die inzwischen wieder nationalen Egoismen huldigen, Platons Worte zuzurufen: „Einem Gemeinwesen, worin das Gesetz geknechtet und machtlos ist, prophezeie ich den Untergang. Der Polis hingegen, in der das Gesetz der Gebieter über die Herrschenden ist und die Herrschenden Diener des Gesetzes sind, sehe ich Dauer und alle Güter zuteil werden, die die Götter je einem Gemeinwesen gewährt haben.“

Rechtsstaatlichkeit und eine Verfassung im Dienste von Frieden und Harmonie: das ist es, was ein Gemeinwesen gelingen lässt – auch das Gemeinwesen Europäische Union. Nicht, weil irgendeine Ideologie, Moral und Religion es geböten, sondern weil nur so das Leben sich entfalten und erblühen kann. Das ist es, was das heutige Europa von seinem ersten Meisterdenker lernen kann.

Irritieren mag dabei, dass Platon bei all seiner Begeisterung für den Rechtsstaat kein Freund der Demokratie war. Zu schlecht waren seine Erfahrungen mit dem demokratischen System seiner Heimatstadt Athen, als dass er die Gefahr von Demagogie und Hetze hätte ignorieren können. Als Antwort darauf votierte er dafür, einen Bildungsstaat zu etablieren: um sicherzustellen, dass der Geist der Freundschaft und der Harmonie in seinen Bürgerinnen und Bürgern (ausdrücklich beiden) walte. Dieses Plädoyer für Bildung war es, was den Wissenschaftsphilosophen Karl Popper dazu veranlasste, Platon zu bezichtigen, der „erste große politische Ideologe“ gewesen zu sein – eine Fehldeutung, die schon Ernst Cassirer zurückwies, indem er darauf bestand, in Platon den „Begründer und ersten Verteidiger des Rechtsstaates“ erkennen zu müssen.

So oder so sollte die Essenz der politischen Philosophie Platons uns heute neuerlich zu denken geben: der Gedanke, dass es einen Sinn des Politischen gibt, der mehr ist als das Verwalten eines freien Marktes und sozialer Umverteilungsmechanismen; der Gedanke, dass ein Gemeinwesen nicht der Kampfplatz rivalisierender egoistischer Agenten ist, sondern ein System gemeinschaftlichen Lebens, das auf Frieden, Harmonie und Schönheit angelegt ist; der Gedanke, dass die bunte Vielfalt von Menschen und Kulturen nicht ein irgendwie zu überwindendes Unglück ist, sondern die Chance bietet, einen reichen Strauß an kulturellen Blüten zu erzeugen. All das zu bedenken, täte unserem Europa gut. Manchmal ist das Älteste und fast Vergessene das Beste, woran wir uns halten können.

Dr. phil. Christoph Quarch (*1964 in Düsseldorf) ist Philosoph, Bestsellerautor, Publizist, Denkbegleiter und Sinnstifter für Unternehmen. Er veranstaltet Philosophiereisen in Kooperation mit ZEIT REISEN und lehrt an verschiedenen Hochschulen. Als Bestsellerautor und Herausgeber sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen; zuletzt: Platon und die Folgen (Metzler 2018), Nicht denken ist auch keine Lösung (GU 2018), Rettet das Spiel! (Hanser 2016). Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei schulpflichtigen Kindern in Fulda.

www.christophquarch.de

Als würde er auf unsere heutige Situation eingehen - Platons politische Philosophie hat uns erstaunlich viel zu sagen. In seiner universellen Vielseitigkeit birgt Platons Denken, so Christoph Quarch, ein verblüffendes Potenzial für die großen Fragen unserer Zeit. Der renommierte Philosoph und Autor hat sich intensiv mit dem großen Denker beschäftigt.

Immer wieder setzte sich Platon mit der Frage auseinander, wie das Miteinander der Menschen gelingen könnte. Seine Thesen zu Sinn und Ziel des Gemeinwesens bezieht Christoph Quarch in dem Kurzessay "Frieden und ein Geist der Freundschaft. Was das heutige Europa von Platon lernen kann" auf unsere aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation in Europa.

Platon als Person wie auch seinem Werk und dessen Einfluss widmet Christoph Quarch im Herbst ein ganzes Buch. In "Platon und die Folgen" (J.B. Metzler Verlag, ET September 2018) stellt er die großen Linien der Philosophie Platons vor und bezieht sie auf die ungelösten Fragen unserer Gegenwart.
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Das heilige Spiel
Warum Fußball ein Geschenk des Himmels ist

Von Christoph Quarch

Abstract: Fußball sieht nicht nur aus wie Religion, Fußball ist Religion. Es ist eine kühne These, mit der sich der Philosoph Christoph Quarch („Rettet das Spiel!“) einen Reim darauf zu machen versucht, warum Fußball die Menschen auf der ganzen Welt begeistert. Dem religiösen Charakter des Fußballs sei es geschuldet, dass das Spiel Menschen über alle Grenzen hinweg zu verbinden und zu harmonisieren vermag. Deshalb sei es nur recht und billig, dem Fußball in Zeiten der Weltmeisterschaft zu huldigen. „Wir haben auf der Welt zur Zeit nichts Besseres“.

Festtagstimmung liegt über dem Land. Die Menschen gehen aufrechter. Sie sind gesprächiger als sonst, ein feines Leuchten flimmert in den Augen. Und dann endlich ist es soweit. Die Fernseher sind eingeschaltet. Mancher sitzt alleine vor dem Monitor, während nebenan sich Freunde treffen und im Stadtzentrum die Masse sich zum Public Viewing sammelt. Viele haben sich dafür noch umgezogen oder ihr Gesicht geschminkt. Und nun tauchen sie mit Wonne ein ins große Spiel, surfen auf der Woge der Begeisterung, weinen, lachen, stürzen in Verzweiflung oder wiegen sich im Freudentaumel. Es ist Fußballzeit, Weltmeisterschaft – und das nicht nur in Russland oder Deutschland, sondern überall auf dieser runden Erde.

Mehr als jeder fünfte Erdenbürger sah im Sommer 2014 das WM-Finale. In einem solchen Maße war noch nie zuvor die Aufmerksamkeit der Menschen synchronisiert. Über alle Kontinente und Kulturen hinweg, aller sozialen und religiösen Gräben spottend, selbst Geschlechterdifferenzen ignorierend, ist der Fußball zum einzigen wirklich globalen Kulturphänomen der Gegenwart geworden. Selbst denen, die das Spiel nicht mögen, sollte das zu denken geben. Fußball ist die kulturelle Signatur der Weltgemeinschaft. Möglich, dass Kulturanthropologen in 200 Jahren von unserer Gegenwart als der „Zeit des Fußballs“ reden werden.

Wie ist das nur möglich? Eine Antwort sei gewagt: Fußball füllt ein Vakuum. Fußball füllt ein Vakuum, das seit dem „Tode Gottes“ (Nietzsche) diese Welt durchwirkt. Fußball ist das, was eine Menschheit, die von allen guten Geistern verlassen scheint, doch noch zu begeistern vermag. Fußball sieht nicht nur aus wie Religion (Fangesänge, Pilgerfahrten, Devotionalien…) – Fußball ist Religion.

Fußball ist keine Ersatzreligion und auch keine Pseudo-Religion. Fußball ist echte Religion; in einem strengen, ursprünglichen Sinne. Er leistet die religio – die Rückbindung – des einzelnen, endlichen Daseins ans große, umfassende Leben; oder ans Geheimnis der Welt, gleichviel. So oder so ist Fußball Religion in exakt dem Sinne, in dem schon die alten Griechen ihre großen Sportwettkämpfe in Olympia oder Nemea als Kultfeiern veranstalteten. Bei ihnen huldigten Athleten und Zuschauer dem Göttervater Zeus, der die Allpotenz des Lebens nicht nur zur Gestalt verdichtet sichtbar machte, sondern sie auch im Namen trug (zên = leben).

Feierliche Rückbindung ans Mysterium des Lebens: das ist, was beim Fußballspiel geschieht. Es erschließt dem Menschen einen Raum und eine Zeit, in der das Leben sich in seiner ganzen Schönheit zeigen darf und damit ganzheitlich erfahrbar wird. Dieser Raum, der durch die Spielfeldgrenzen und das Stadionrund bezeichnet ist, ebenso wie diese Zeit – 90 Minuten + Verlängerung – schneiden aus der Betriebsamkeit und Geschäftigkeit des alltäglichen Lebens eine Bühne, die frei von Zwängen und von Zwecken ist.

Sie gerät zu einer Bühne, wo die Spieler sich in ihrer Individualität entfalten können, auf der sie aber ebenso zu einem Kollektiv verschmolzen sind, ohne das all ihre Kunst vergebens wäre. Diese Bühne sieht Tragödien und Komödien, auf ihr wird gelitten und gejubelt, geblutet und gedacht, gesungen und geweint. Sie lässt alle Facetten des Lebens zu. Und sie entzieht sich jeglicher Berechenbarkeit. Kein Algorithmus wird je den Verlauf eines Fußballspiels errechnen können. Unberechenbarkeit und Selbstgenügsamkeit machen das Spiel zu einem heiligen Geschehen – zu einem Kult inmitten einer technisierten und von ökonomischen Imperativen gefesselten Welt.

Fußball ist im strengen Sinne Religion. Er ist Religion, so wie der große Theologe Friedrich Schleiermacher sie einst definierte: „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Denn unendlich ist das Potenzial der Spielzüge und Spielverläufe. Grenzenlos und unberechenbar sind die Möglichkeiten, die das Spiel zulässt. Grenzenlos und unberechenbar wie das Leben selbst – dem der Spieler deshalb mehr als jeder andere in seiner Wahrheit Rechnung trägt. Religion, so meinte Schleiermacher, heißt Darstellung des Unendlichen im Individuellen. Eben das geschieht beim Fußball. Beim aktiven Spiel genauso wie beim passiven Zuschauen. Und nur so ist zu erklären, dass dieses Spiel zum weltbeherrschenden Kulturphänomen werden konnte.

Freilich wird der Satz, Fußball ist Religion, denen verdächtig sein, die sich als Sachwalter der alten, wohlbekannten Religionen sehen. Ihnen wäre zu erwidern, was schon Schleiermacher ihnen einst ins Stammbuch schrieb: Religion hat nichts zu tun mit Dogmen und Bekenntnissen. Sie hat auch nichts zu tun mit Moral, Gehorsam und Gebot. Nein, sie genügt sich darin, „in kindlicher Einfalt“ dem großen Spiel des Lebens beizuwohnen. Sie gebiert aus sich heraus ihre Mythen und ihr Ethos. Einfach nur, indem sie Menschen ahnen lässt, dass auch in ihrer eigenen Seele jener große Geist des Lebens schlummert, den das Spiel so zauberhaft bezeugt.

Doch es liegt im Wesen einer jeder Religion, dass sie – ohne es zu wollen – all das Lebensfeindliche und Dunkle an sich zieht oder ans Licht bringt. Immer schon griffen die Mächtigen nach ihr. Was einst die Kaiser oder Könige, das sind heute Oligarchen oder Scheichs. Sie wollen sich der Magie des Spiels bemächtigen; doch die religiöse Kraft des Fußballs zeigt sich gerade darin, dass es ihnen zwar gelungen ist, den Spielbetrieb zu einem Marktgeschehen umzuwandeln, doch dem Spiel als solchen konnten sie – bisher – nicht seine Unschuld und den Zauber nehmen. Auch dass ein korrupter Klerus sich des Heiligen bemächtigt, ist nicht neu; auch nicht, dass sich haufenweise Glücksritter und Desperados finden, die als Kreuzritter bzw. Hooligans das Spiel gebrauchen, um sich auszutoben.

Aber all das darf man einer Religion genauso wenig wie dem Fußball als Vergehen oder Makel ankreiden. Ganz im Gegenteil: Sie zeigen ihre Kraft darin, das Lebensfeindliche zu binden und an ihre Spielwelt anzuheften, da es – manchmal wenigstens – auf diese Weise domestiziert oder entschärft werden kann. Die Kraft des Spiels war bislang stark genug, die dunklen Kräfte abzufedern, die es anzieht und ans Licht bringt.

Aber nicht nur das. Das Fußballspiel – wie jede echte Religion – besitzt sogar die Kraft zur Heilung: nicht des Individuums, wohl aber der großen, kollektiven Pandemien, von denen die Gesellschaft derzeit heimgesucht wird. Als erstes wäre hier die jüngst von Manfred Spitzer als Epidemie diagnostizierte Einsamkeit zu nennen. Kein Zweifel: Fußball verbindet – die Spielenden sowieso (auch da übrigens, wo sie Gegner sind), aber ebenso die Zuschauer (auch da übrigens, wo sie Gegner sind). Fußballfans sind nirgends auf der Welt allein. Weder in Las Vegas noch in Tibet. Fußball knüpft ein Netz globaler Zugehörigkeit. Das sollte nicht unterschätzen, wer zu den Verächtern dieses Spiels gehört.

Fußball ist zudem ein Hort der Leiblichkeit. Das ist viel in einer Zeit, in der sich menschliche Präsenz zunehmend digital und virtuell verflüchtigt. Die Verheißungen der Künstlichen Intelligenz spotten des Leibes als einer minderwertigen Trägersubstanz von Rationalität und Information – die im gleichen Atemzug als Garanten menschlicher Würde und Identität ausgegeben werden. Fußball jedoch wird man nie von einem Leib abstrahieren können – selbst wenn Computerspiele das leibliche Geschehen virtuos simulieren. Denn dass ein Spieler Kopf und Kragen riskiert, dass er seine Knochen hinhält, dass seine Nerven versagen: all das macht das Spiel zum Spiel. Und all das gibt den Spielern Würde, all das macht sie groß und schön; wie die Helden eines Epos oder einer Tragödie.

Eines noch, was nicht verschwiegen werden soll. Auch einem dritten, bedenklichen Trend der Gegenwart bietet der Fußball mit seiner religiösen Kraft Paroli: der Gentrifizierung. Weil er das Leben in seiner fragilen, gefährdeten und tragischen Leiblichkeit feiert, bekundet er es auch in seiner unhintergehbaren Geschlechtlichkeit. Beim Fußball – und man ist geneigt zu fragen: wo denn sonst noch? – dürfen Männer Männer sein. Und weil Männer dort Männer sein dürfen, können Frauen dort auch Frauen sein; ähnlich wie auf dem Oktoberfest, allen Ideologien und Konventionen zum Trotz; ja, sogar vielen der althergebrachten Religionen zum Trotz.

Vielleicht ist es ja – wenn dies zu denken erlaubt ist – ein wirklicher Fortschritt der Menschheit: dass sie fast unbemerkt eine Weltreligion empfing, die sich als stark genug erwiesen hat, die Menschen dieser Erde irgendwie zu verbinden, zu begeistern und auf sonderbare Weise an genau das rückzubinden, was die alten Religionen Gott nannten und worüber sie furchtbar gestritten haben. Fußball hingegen stiftet Frieden – gerade in einer Zeit neuen Kriegsgeschreis.

Vielleicht ist Fußball ein Geschenk des Himmels – und vielleicht geziemt es sich, darüber nicht länger zu reden, sondern es in seiner heiligen und unbedarften Unschuld schlummern zu lassen. Legen wir das Juwel zurück in sein Futteral, hegen und pflegen wir es im Stillen. Und seien wir ihm innig dankbar. Wir haben auf der Welt zur Zeit nichts Besseres.


Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit „ZEIT-Reisen“.
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Kanarienvogel im Bergwerk der Demokratie
Der Status der Wissenschaft in Russland, der Türkei, Ungarn und Polen

Von Lars Jaeger

Kanarienvögel hatten im Bergbau früher eine wichtige Funktion. Trat unter Tage das gefährliche, aber geruchslose Kohlenmonoxid aus, so war es ein Kanarienvogel, der davon am schnellsten betroffen war. Bereits bei einer Konzentration von 0,3% und nach einer Zeit von ca. zweieinhalb Minuten fällt dieser tot von der Stange. Die Bergleute waren gewarnt und hatten noch ausreichend Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.

Die Wissenschaften lassen sich als Kanarienvögel der Demokratie ansehen. Wo Wissenschaft verachtet oder ignoriert wird, ihre Protagonisten unter schlechten Bedingungen leiden, in ihrer Arbeit eingeschränkt oder gar persönlich verfolgt werden, wo politische Führer Wahrheiten ausgeben, die jenseits wissenschaftlicher Überprüfung stehen sollen, dort gilt: Die offene Gesellschaft mitsamt ihren sozialen, humanistischen und ökonomischen Errungenschaften ist in akuter Gefahr. Besonders gerne nehmen autoritäre Machthaber Wissenschaftler ins Visier, denn wie schon Albert Einstein wusste: „Nichts in der Welt wird so gefürchtet wie der Einfluss von Menschen, die geistig unabhängig sind“. So wie sich die Wissenschaftler qua ihres beruflichen Ethos von vorgegebenen absoluten Wahrheitsansprüchen frei erklären müssen, so gilt das in einer offenen Gesellschaft auch für die Macht- und Entscheidungslegitimation ihres politischen Führungspersonals. Denn wie die wissenschaftliche Forschung befinden sich auch politische Entscheidungsprozesse in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich die Protagonisten immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. In beiden führt der Weg echten Fortschritts stets über die permanente Korrektur falscher Entscheidungen bzw. Theorien. Nicht ganz ohne Ironie war es genau dieses stetige Sich-Herumschlagen mit Unvollkommenheiten, das letzthin die beispiellose Wissensvermehrung hervorgebracht hat, welche die moderne Fortschrittsdynamik definiert und ihrerseits zu einer vorher nie gekannten gesellschaftlichen Wachstums- und Wohlstandsentwicklung und immer besseren Lebensbedingungen geführt hat. All das passt mit autokratischen und repressiven gesellschaftlichen Herrschaftsformen nicht zusammen.

So sind es dann auch (neben den Künstlern) die Wissenschaftler, die einem Ort, wo Meinungs- oder Pressefreiheiten, Bürger- oder Wahlrechte, der freie Fluss der Ideen und die Kreativität beschnitten werden, als erste den Rücken kehren. Besonders deutlich ließ sich dies im nationalsozialistischen Deutschland beobachten. Deutsche Universitäten verloren in den 1930er Jahren fast ein Drittel ihres Lehrkörpers, darunter Nobelpreisträger wie Albert Einstein, den Physiker Gustav Hertz oder den Chemiker Fritz Haber. Göttingen war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Weltzentrum der Mathematik gewesen. Gerade einmal zwei Jahre brauchten die Nazis, um diesen Status komplett zu zerstören. Die Emigrationswelle deutscher Wissenschaftler ab 1933 ließ die deutschen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen ihre akademische Vormachtstellung in der Welt unwiederbringlich verlieren.

Umso beängstigender ist es, wenn der Chef der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Sergejew, die heutige Lage der Wissenschaft in seinem Land als „Tal des Todes“ beschreibt. Anfang der 90er-Jahre gab es noch fast dreimal so viele Wissenschaftler in Russland wie heute. Unterdessen summiert sich die Zahl der hochqualifizierten Auswanderer aus dem Land auf 44’000 pro Jahr. Vor allem in den letzten Jahren, seit der Annexion der Krim und den immer weitergehenden Repressionen des Putin-Regimes gegen politisch Andersdenkende, wanderten mehr und mehr Wissenschaftler, und mit ihnen viele der gescheitesten jungen russischen Geister, in den Westen ab, können sie doch zu Hause nicht das umsetzen, was sie in ihren Köpfen haben. Und dass russischstämmige Physiker im Ausland Erfolge haben können, zeigten u.a. Andrej Geim und Konstantin Nowosjelow von der Universität Manchester, die im Jahre 2010 den Physik-Nobelpreis für die Erforschung des Nanomaterials Graphen erhielten. Auf die Frage, ob er sich eine Rückkehr nach Russland vorstellen könne, antwortete Geim sarkastisch: „Erst nach meiner Wiedergeburt.“

Auch der türkische Kanarienvogel ist längst von der Stange gefallen. Seit dem Sommer 2016 und dem angeblichen Putsch der Bewegung des islamischen Prediger Fethullah Gülen sind dort Tausende Professoren und Dozenten suspendiert, Hochschulen geschlossen, Dekane abgesetzt und Wissenschaftlern die Reiseerlaubnis entzogen und auf vielfältige andere Art und Weise in ihre Arbeit behindert worden. Kurz: Seit fast zwei Jahren erleben wir eine massive Einschränkung akademischer Freiheiten in der Türkei. Die türkische Regierung inszeniert eine Verhaftungswelle nach der anderen, auch unter Wissenschaftlern. Ihnen wird Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen, konkret eine Anhängerschaft Gülens. Die Mechanismen der Legitimation von Repressionen haben sich seit dem Reichstagsbrand von 1933 kaum verändert.

Zwei weitere Einsatzgebiete für Kanarienvögel sind Ungarn und Polen. In Ungarn haben viele Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle das Land bereits verlassen, weitere dürften folgen. Victor Orbans Kampf gegen die Central European University in Budapest ist nur ein Beispiel für die repressive Politik seiner Regierung gegen unabhängige Wissenschaften und akademische Ausbildungsstätten. Diesem unsäglichen Pfad folgt unterdessen leider auch Polen. Das jüngste Beispiel der Beschränkung der freien akademischen Meinungsäußerung im Geburtsland Nikolaus Kopernikus, die insbesondere die Geschichts- und Sozialwissenschaft betrifft, ist das neue Holocaustgesetz, das für jeden, der Polen als Nation für Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beschuldigt, neben deftigen Geldstrafen auch Haftstrafen von bis zu drei Jahren vorsieht. Viele Forscher glauben, dass dieses Gesetz eine einschüchternde Wirkung auf Lehre, Forschung und Medien in Polen haben wird.

Akademische Freiheit und Kreativität waren immer Tragpfeiler und Entwicklungsträger offener und nachhaltig prosperierender Gesellschaften. Und auch das Umgekehrte gilt: Die erfolgreichste wissenschaftliche Forschung findet in offenen Gesellschaften statt. Die Anzahl der Nobelpreise für wissenschaftliche Arbeiten aus Ländern wie dem heutigen Russland, der Türkei, Ungarn oder Polen (oder auch China) lassen sich mit weniger als einer Hand abzählen (auch wenn es einige Preisträger gibt, die in einem dieser Ländern geboren wurden). Unabhängige Forschung, angstfreies Lehren und Lernen, der offene Dialog und der freie Fluss der Ideen dienen aber nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern der gesamt-gesellschaftlichen Entwicklung und dem allgemeinen Wohlstand. Russland, die Türkei, Ungarn, Polen sind allesamt auf dem Wege, bittere vergangene Erfahrungen zu wiederholen. So bleibt nur zu hoffen, dass sich Putin, Erdogan, Orban und Kaczynski an die historische Lektionen erinnern. Falls sie ihre momentane Politik der Beschränkung, Einschüchterung, Drangsalierung oder gar Verhaftungen von Wissenschaftlern (und anderen Intellektuellen) fortführen, kommen nicht nur auf die russische, türkische, ungarische und polnische Wissenschaft, sondern auch auf die Länder als Ganzes, ihre Wirtschaft, ihr Wohlstand und all ihre Menschen schwere und leidvolle Jahre und Jahrzehnte zu. Und wenn den Westen eine solche Entwicklung kalt lässt – oder er sie wie im Fall der Trump-Administration sogar noch fördert, so könnte sich seine Zukunft als nicht weniger düster erweisen.

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Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. Im August 2017 erschien sein neustes Buch „Supermacht Wissenschaft“ beim Gütersloher Verlagshaus.
 
 

 
Stressfrei entscheiden: Achten Sie auf die Impulse Ihres Inneren
Von Christoph Quarch

Entscheiden müssen wir uns permanent. Doch nicht immer fällt uns das Entscheiden leicht. Dann hilft es, sich darüber aufzuklären, was beim Entscheiden genau geschieht, und wer in uns entscheidend ist, meint der Philosoph Dr. Christoph Quarch.

Es war einmal ein Esel, der hatte großen Hunger. Da traf es sich dem Anschein nach recht gut, dass sich zu seiner Linken ein großer Heuhaufen befand. Allein, im gleichen Abstand war ein zweiter Haufen, dessen Heu genauso frisch und lecker duftete. „Wer die Wahl hat, hat die Qual“, bemerkte da der arme Esel, und weil er sich partout nicht denken konnte, welcher Heuhaufen der schmackhaftere sei … bekam er keinen Huf von der Stelle und verreckte jämmerlich in der Mitte zwischen beiden.

Diese Anekdote verdanken wir dem Philosophen Johannes Buridan (1295–1363), der mit ihrer Hilfe zu bedenken geben wollte, wie wichtig es für die Entscheidungsfindung ist, mit Hilfe des rationalen Denkens zu ermessen, welche Option sich als die bessere und folglich tunliche erweisen könne. Hunger oder Appetit allein, so Buridan, sind als Entscheidungshelfer unzureichend. Deshalb ließ er seinen armen Esel sterben.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass auch wir mit Rationalität gesegneten Menschen uns oft mit Entscheidungen schwertun: dass uns zuweilen auch der schärfste Sachverstand nicht hilft, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben. Und dann leiden wir und quälen uns nicht anders als Buridans Esel; dann machen wir uns Stress und suchen verzweifelt nach einem Entscheidungshelfer, der uns von jenem unangenehmen Zustand des Unentschieden-Seins befreit. Was dann?

Wer dem Geheimnis des Entscheidens auf die Schliche kommen möchte, ist nicht schlecht beraten, auf die Sprache zu achten. Denn sie verrät, worauf es beim Entscheiden ankommt (und warum es für uns so wichtig ist, entschieden zu sein): Es geht darum, einen Zustand der inneren Geschiedenheit zu überwinden. Wer sich nicht entscheiden kann, ist uneins mit sich selbst. Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Er ist mit sich nicht länger eins und ringt darum, mit sich wieder ins Reine zu kommen. Und also muss er sich ent-scheiden.
Was tut er dann? Er versucht, eine Entscheidung zu treffen oder auch zu fällen. Erneut verrät die Sprache etwas Wesentliches: Das Verb „fällen“ verwenden wir sonst nur im Zusammenhang mit Bäumen. Man fällt einen Baum, der schon da ist, den man aber fällen muss, um ihn sich anzueignen. Genauso ist es mit Entscheidungen: Sie sind schon da – und die Kunst besteht nur darin, sie zu finden bzw. zu treffen, um ihrer habhaft zu werden. „Treffen“ ist das geläufigste Verb im Zusammenhang von Entscheidungen. Man trifft sie so wie man einen Freund trifft: manchmal zufällig, aber meistens so, dass man sich aufmacht, um ihm zu begegnen. Dann trifft man ihn, aber „macht“ ihn nicht. Ebensowenig kann man Entscheidungen machen. „Decision making“ ist ein irreführendes Idiom.

Halten wir fest: Entscheidungen muss man treffen, und zwar immer dann, wenn man mit sich uneins ist bzw. wenn die Stimmen im Inneren konkurrieren. Nur: Wie trifft man sie – und vor allem: wie trifft man die richtigen Entscheidungen?

Zunächst sollte man ermitteln, um was für Stimmen es sich handelt. Häufig schwelen in uns Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen: schnell ans Ziel kommen oder die schönere Strecke nehmen? Oder zwei Werte kollidieren: möglichst kostengünstig einkaufen oder möglichst umweltschonend? Hat man sich darüber aufgeklärt, was da konkurriert, kann man sich die – entscheidende – Folgefrage vorlegen: Wer ist der Urheber dieser Stimmen? Wo genau verläuft in uns die Scheidung, die zu überwinden wäre?

Diese Frage rührt an unser Menschenbild. Sie nötigt uns zu einer Reflexion darauf, wer wir eigentlich sind. Eine traditionelle Antwort lautet: Wir sind komplexe Wesen, die unterschiedliche Dimensionen an sich aufweisen: Wir sind Leib, wir sind Ich, wir sind Seele, wir sind Geist. Wenngleich diese Begriffe schwer beladen sind, können wir sie hier zu Rate ziehen. Denn der innere Konflikt, der uns Entscheidungen erschwert, kann sich zwischen den Bedürfnissen unseres Leibes (Hunger, Schlaf) und den Interessen unseres Ichs (Abnehmen, Party machen) zutragen; er kann sich aber genauso zwischen den Interessen des Ichs (Karriere machen) und der Dynamik unserer Seele (Familie gründen) abspielen – wobei Konflikte zwischen Ich und Seele am schwersten aufzulösen sind, weil sich die Dynamik der Seele – oder des Selbst – oft im Unterbewussten, im Bereich der Emotionen oder auch Intuitionen abspielt, während unser Ich seine Interessen und Wünsche oft klar benennen und rational verfolgen kann.

Diese Art von Konflikten sind die gravierendsten. Sie verursachen am meisten Stress, weil sie nicht durch rationale Operationen, Kalküle oder gar Berechnungen aufgelöst werden können. Kein Algorithmus der KI reicht in die Tiefen einer Seele. Deshalb bleibt uns nichts anderes, als uns in Achtsamkeit und Wachsamkeit für die Impulse zu üben, die aus der Seele in uns aufsteigen: Intuitionen, Bauchgefühl, körperliche Reaktionen. Sie sind bei den großen Fragen stets die besten Entscheidungshelfer, denn das Leben lehrt, dass Ihre Seele längst entschieden hat und Sie in ihr Ihre Entscheidungen treffen. Also lauschen Sie auf die Impulse Ihrer Seele, und verzetteln sich nicht in umständlichen Kalkülen.

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Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit „ZEIT-Reisen“. In seinem aktuellen philosophischen Entscheidungshelfer „Nicht denken ist auch keine Lösung“ (GU) identifiziert er unterhaltsam, informativ und praktisch die Faktoren, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen und zeigt Wege, wie wir diese Faktoren gewichten und berücksichtigten können.
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Dr. Albert T. Lieberg zum Weltsozialforum 2018 – Ein Résumé
Was seine potentielle Bedeutung als politischer Akteur angeht, blockiert sich das Weltsozialforum seit Beginn seiner Existenz selbst, weil es auf seinen anfänglichen Prinzipien beharrt und keinerlei Führungs- und Repräsentationsstrukturen zulässt. Sicherlich ist dies auch begründbar mit der nicht unberechtigten Angst, zum Spielball von Interessensgruppen zu werden. Doch es gibt keine Politik ohne Risiko, es gibt keine Rückversicherung in der demokratischen Evolution. Die drastischen Kennzeichen unserer heutigen Welt sind alarmierender denn je. Eskalierender Konsumwahn, Stress, Verdummung, Nationalismen, Populismus und Radikalisierung, Umweltzerstörung, Kriege und sich verschärfende Militarisierung, Gewalt, klaffende Armutsscheren, Ungerechtigkeit, Migration, Ausgrenzung, Vereinsamung sind nur einige Aspekte unserer globalen Wirklichkeit. Was fundamental nötig ist - auch unabhängig vom Weltsozialforum - heute mehr denn je zuvor, ist eine starke internationale politische Plattform zu kreieren, die progressive, tiefgreifende politische Reformen ausarbeitet, diese öffentlich vermittelt und durch einen in Gang zu setzenden Prozess der Öffentlichkeitsarbeit die Realpolitik in den Staaten unserer Welt mit beeinflusst. Doch es fehlt eine solch fassbare Instanz als Orientierung, als Ansprechpartner. Es fehlt eine entsprechende Struktur.


Das Weltsozialforum 2018 – Nur internationales Happening oder doch noch Katalysator eines globalen Systemwechsel ?

Die Geschichte des Weltsozialforums (WSF) begann 2001 in Porto Alegre/Brasilien. Seit 2009 findet es im Zwei-Jahres-Takt statt - zuletzt machte es Station in Dakar/Senegal, Tunis/Tunesien und Montreal/Canada. Dieses Jahr kehrte das WSF (13.-17. März 2018) nun zum insgesamt siebten Mal zu seiner Geburtsstätte nach Brasilien zurück, genauer: nach Salvador da Bahia. Das Weltsozialforum wurde seinerzeit als eine Art Gegenveranstaltung vor allem zum Davoser Weltwirtschaftsforum konzipiert, bei dem sich im Schweizer Edelresort jährlich die Eliten der Weltwirtschaft und Weltpolitik ein Stelldichein geben, um über die Zukunft unseres Planeten zu beraten. Das WSF hingegen ist das größte Treffen der Zivilgesellschaft weltweit, um Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu diskutieren. In jeder seiner Ausgaben führt es tausende von TeilnehmerInnen zu mehreren hunderten Aktivitäten (Workshops, Konferenzen, Dialoge usw.) unter verschiedenen Themenbereichen (u.a. Menschenrechte, Demokratisierung, globale Gerechtigkeit und Weltfrieden, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Feminismus, Armut und Gewalt, Umwelt und Klimawandel, Diskriminierung und Ausgrenzung) zusammen. Das WSF ist eine pluralistische, nicht konfessionelle, nichtstaatliche und nichtparteienbezogene Institution, die dezentral Organisationen und Bewegungen zusammenbringt, welche durch Aktivismus auf lokaler, regionaler wie internationaler Ebene dazu beitragen wollen, eine gerechtere und friedlichere Welt mitaufzubauen, jenseits der globalisierten Doktrin unserer materialistischen Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft.

Mit den weltweiten Treffen wird unter anderem aber auch beabsichtigt, Alternativen zum vorherrschenden Denkmodell des globalen Neoliberalismus aufzuzeigen und weiterzuentwickeln. Doch weder konzeptionell noch strategisch ist das WSF dafür geschaffen, konkrete Maßnahmen zu beschließen oder gar Resolutionen zu verabschieden, sondern sieht sich zu allererst als Gelegenheit zur Vernetzung und des Austausches seiner (oft mehrheitlich lokalen) Akteure - so auch dieses Mal. Beim WSF 2018 handelte es sich somit auch mehr um ein brasilianisches, denn um ein Weltsozialforum, kamen doch über 90 Prozent der Teilnehmer aus dem eigenen Land und die dominierende Anzahl der Veranstaltungen befassten sich mit Thematiken der brasilianischen Aktualität (wie etwa die anhaltende Staatskrise nach der Absetzung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff, die Militarisierung von Rio de Janeiro, die Angst um die Aushöhlung der Demokratie) - Veranstaltungen zu globalen Themen waren kaum wahrnehmbar. Und genau dies ist aus meiner und aus der Sicht einiger langjähriger Beobachter und Aktivisten eines der großen Probleme der Institution, die sich Weltsozialforum nennt. Denn das geringe Vorhandensein von Events zu stringent globalen Thematiken trägt dazu bei, dass das WSF de facto keine wirklich weltpolitische Bedeutung generiert. Sicher, für die teilnehmenden Gruppen und Bewegungen ist es ein wichtiger Moment der Aufmerksamkeit, der Solidarität und vor allem ein unbestreitbarer Motivationsschub. Doch das WSF ist, realistisch betrachtet, immer nur alle zwei Jahre für die kurze Dauer der vier Tage seiner Ausrichtung existent und verschwindet dann wieder im fassungslosen Nichts.

Das WSF hat gewollt keine wirkliche Struktur noch Organisation. Es ist insgesamt horizontal partizipativ konzipiert, ohne Entscheidungsgremium oder formellen Vertretern. Neben einem machtlosen Sekretariat in Marokko, gibt es den Internationalen Rat (International Council), in dem über 150 Organisationen und Bewegungen in einem losen Netzwerk vertreten sind. Dieser Rat trifft sich sporadisch ein- bis zweimal im Jahr, kann aber keine wirklich strategischen Entscheidungen treffen, außer über den nächsten Austragungsort und eine eventuelle grobe Themensetzung. Aus meinen Gesprächen und Beobachtungen ergab sich zudem, dass der International Council offensichtlich tief in verschiedene Lager gespalten ist: eines, das die Horizontalität und Strukturlosigkeit dogmatisch verteidigt, ein anderes, welches sich für die Schaffung einer gewissen Minimalstruktur, für eine gewisse Konturengebung des Weltsozialforums nach Außen einsetzt und ein weiteres, das durch Orientierungs- und Tatenlosigkeit der eigenen Betrachtung frönt.

Was seine potentielle Bedeutung als politischer Akteur angeht, blockiert sich daher das Weltsozialforum seit Beginn seiner Existenz selbst, weil es auf seinen anfänglichen Prinzipien beharrt und keinerlei Führungs- und Repräsentationsstrukturen zulässt. Sicherlich ist dies auch begründbar mit der nicht unberechtigten Angst, zum Spielball von Interessensgruppen zu werden. Doch es gibt keine Politik ohne Risiko, es gibt keine Rückversicherung in der demokratischen Evolution. Die drastischen Kennzeichen unserer heutigen Welt sind alarmierender denn je. Eskalierender Konsumwahn, Stress, Verdummung, Nationalismen, Populismus und Radikalisierung, Umweltzerstörung, Kriege und sich verschärfende Militarisierung, Gewalt, klaffende Armutsscheren, Ungerechtigkeit, Migration, Ausgrenzung, Vereinsamung sind nur einige Aspekte unserer globalen Wirklichkeit. Was fundamental nötig ist - auch unabhängig vom Weltsozialforum - heute mehr denn je zuvor, ist eine starke internationale politische Plattform zu kreieren, die progressive, tiefgreifende politische Reformen ausarbeitet, diese öffentlich vermitteln kann und durch einen in Gang zu setzenden Prozess der Öffentlichkeitsarbeit die Realpolitik in den Staaten unserer Welt mit beeinflusst. Doch es fehlt eine solch fassbare Instanz als Orientierung, als Ansprechpartner, es fehlt eine entsprechende Struktur.

Die sogenannten progressiven oder als links bezeichneten politischen Parteien sind quasi weltweit allesamt gescheitert. Sie sind im Auflösungsprozess, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren oder üben sich frenetisch im sozial- und umweltpolitischen Abdämpfen der entsprechenden Konsequenzen eines globalisierten materialistischen Kapitalismus. Und dies, weil sie entweder nicht willens oder nicht fähig sind die grundsätzlichen Problematiken und Irrwege unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, in Frage zu stellen und in konkrete, konsequente Reformpolitiken zu übersetzen. Zu diesen Fehlentwicklungen, die heute grundsätzlich als unabänderlich angesehen werden, die aber tabulos angegangen werden müssen, gehören unter anderem die folgenden Grundpfeiler unserer globalen Gesellschaft:

 Das wirtschaftliche Wachstum sowie insbesondere die Profitmaximierung sind die wichtigsten Orientierungsparameter aller nationaler und globaler Wirtschaftsprozesse und, aufgrund der Notwendigkeit der Schaffung von Geldeinkommen, damit auch des menschlichen Handelns.

 Eine Wettbewerbsgesellschaft, in der einzelne Menschen und Unternehmen/Gruppen wettstreiten, um sich gegen andere durchsetzen zu müssen.

 Die implizite Gleichstellung von finanziellem Erfolg mit sozialer Akzeptanz.

 Mit Ausnahme von Sonnenlicht und Atemluft, und bis zu einem gewissen Grade Liebe/Zuneigung, sind alle Bereiche und Dinge des Lebens zu monetär bewerteten und damit gehandelten oder handelbaren Waren konvertiert und können zu Privatbesitz werden.

 Die Motivation zur persönlichen Leistung wird primär durch das In-Aussichtstellen eines (hohen) finanziellen Einkommens und des damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehens bestimmt.

 Die sich beschleunigende Angleichung von wirtschaftlicher Macht und politischem beziehungsweise gesellschaftlichem Einfluss (u.a. Informationsmedien, Digitalisierung, transnationale Konzerne).

 Geo-strategische und staatspolitische Entscheidungen richten sich primär nach wirtschaftlichen Interessen.

Es sind komplexe Zusammenhänge, die wir als dominante und möglicherweise potentiell intelligenteste Spezies auf diesem Planeten anzugehen haben, jedoch müssen wir uns dafür vor allem von verzerrten Vorstellungen eines angeblich unabänderlichen Verhaltenscodex des Menschen emanzipieren. Um die Fehlentwicklungen und Missstände unserer Evolution auf Dauer überwinden zu können, brauchen wir einen tiefgreifenden, vielleicht sogar radikalen Systemwechsel. Auf einer eigenen Veranstaltung des Weltsozialforums zur Notwendigkeit und zu den Inhalten eines möglichen (politischen) Systemwechsels habe ich entsprechend auf diese Zusammenhänge hingewiesen.

Das von mir beim WSF vorgebrachte konkrete Modell der Gesamtgesellschaftlichen Modernen stellt sich der Herausforderung und folgerichtig der notwendigen Erarbeitung einer konkreten Gesellschaftsoption. Wir müssen über die zwar richtige, aber sich nur wiederholende, schon bekannte Materialismus- und Kapitalismuskritik endlich hinauswachsen. Auch dürfen wir uns nicht in der Betrachtung isolierter oder lokaler Reformansätze verlieren, sondern endlich tabulos die Formulierung eines ganzheitlichen politischen Ansatzes wagen. In diesem Zusammenhang ist eine grundsätzliche Entideologisierung der politischen Debatte historisch unabdingbar und damit zeitgemäß, auch um das Groh der Bevölkerung wieder demokratisch an ihrer eigenen Entwicklung teilhaben zu lassen. Das Ausdifferenzieren in Links und Rechts muss aufgehoben werden, muss dem gedanklich unvoreingenommen gemeinsamen Erarbeiten ganzheitlicher Lösungen für die Zukunft unserer Weltgesellschaft Platz machen. Wir müssen uns konzentrieren auf die natürlichen Bedürfnisse unserer Spezies und unserer natürlichen Umwelt, von der wir abhängen. Eine emanzipierte, moderne und intelligente Gesellschaft muss sich befreien können vom künstlich geschaffenen Diktat des Geldes, vom materiellen Konsumzwang, vom individualistischen Streben nach Besitzakkumulation und einem Sozialprestige definiert als Überlegenheitsanspruch, vom sozial-psychologischen Zerstörungspotenzial des allgegenwärtigen Wettbewerbs als angeblich alternativloses Allerheilsmittel. Dafür ist es unter anderem notwendig, dass wir unsere eigenen Erziehungsinhalte und Verfassungen neu formulieren, jeder Macht- und Kapitalakkumulation die Grundlage entziehen, und ein universales Gemeingut schaffen, welches vom Geldwert entkoppelt ist, und damit weltweit die Basis schafft für eine friedliche Koexistenz und einen akzeptablen Lebensstandard.

Weite Teile der Weltbevölkerung sehnen sich nach Vorschlägen für fundamentale Veränderungen in unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Doch nur wenn sich all die unterschiedlichen Akteure, die Menschen mit einer solidarischen und nichtmaterialistischen Weltsicht bündeln und eine breite gesellschaftspolitische Kraft bilden, wird es eine Möglichkeit geben die Wirtschafts- und Sozialsysteme weltweit und nachhaltig zu verändern und damit eine global erneuerte, moderne und gerechte Gesellschaft auf dem Planeten Erde zu entwickeln. Sowohl in meinen Gesprächen mit wichtigen Alphatieren des Internationalen Rates wie auch während einer zentralen Veranstaltung zur Zukunft des Weltsozialforums, habe ich diese Notwendigkeit angesprochen und für ein entsprechendes Handeln plädiert

Es wird sich möglicherweise schon in absehbarer Zeit herausstellen, ob das Weltsozialforum in der Lage oder willens sein wird, sich von einem internationalen Happening der Solidarität doch noch zu einem tatsächlichen Katalysator eines globalen Systemwechsels zu entwickeln - wie es seit seines Bestehens von den Teilnehmern und Unterstützern des Forums immer wieder gefordert wurde und wird. Oder ob es schließlich, wie viele langjährige Beobachter befürchten, an seiner eigenen Prinzipientreue verkümmert. Die existentielle Notwendigkeit eines gemeinschaftlich getragenen Systemwechsels bliebe hiervon jedoch unberührt.

Dr. Albert T. Lieberg (22. März 2018)

Das Buch "Der Systemwechsel - Utopie oder existentielle Notwendigkeit?" ist im Büchner-Verlag, Marburg, erschienen, hat 144 Seiten und kostet als Klappenbroschur EUR 17,00 (D) - ISBN 978-3-96317-105-5 und als ePDF EUR 14,00 (D) - ISBN 978-3-96317-606-7
 
 



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